Übertragung/Gegenübertragung
Keyword: Übertragung / Gegenübertragung
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Definition: Übertragung und Gegenübertragung sind seit S. Freuds Entdeckung (1895) das zentrale Konzept jeglicher psychodynamiscber Therapie. Freuds Konzept ist folgendes gewesen: Unerfüllte Triebwünsche (> Triebentwicklung, Phasen der) aus der Kindheit leben unbewusst weiter und können während der Therapie wieder zutage treten, indem sie sich durch falsche Verknüpfung auf den Therapeuten richten, d. h. auf ihn übertragen. Zunehmende Erfahrung in der analytischen Behandlung führt zu der Erkenntnis, dass ein Auftauchen von Übertragungsgefühlen entscheidende Bedeutung für das Gelingen der Behandlung haben kann, besteht doch deren Anliegen darin, verborgene und vergessene Triebregungen dem Patienten bewusst zu machen. Die Übertragung ist also durch das Auftauchen frühkindlicher Liebeserwartungen (> Liebe) sowie auch verdrängter Hassgefühle (> Aggression > Hass) der psychoanalytischen Behandlung förderlich.
Information: Zugleich kann sie aber auch negative Auswirkungen haben, indem sich z. B. der Patient in der Abhängigkeit vom Therapeuten wohlzufühlen beginnt, seine eigene Verantwortlichkeit aufgibt (> Regression) und sich unbewusst weigert, gesund zu werden, weil er damit die Beziehung zum Therapeuten aufgeben müsste. Diesem Streben darf der Therapeut keinen Vorschub leisten. Deshalb soll die Behandlung unter dem Gebot der Neutralität und Versagung (> Abstinenz) stattfinden: Der Analytiker soll undurchsichtig für den Patienten sein "und wie eine Spiegelplatte nichts anderes zeigen, als was ihm gezeigt wird". (Freud, GW 8, S. 384). Seine Aufgabe ist es, in gleichschwebender Aufmerksamkeit unbewusste Wünsche und Konflikte wahrzunehmen, anzusprechen und zu deuten. Ziel ist es, durch Deutungen die Wiederholung verdrängter Kindheitskonflikte, die auf den Analytiker übertragen werden, in Erinnerung zu verwandeln. (vgl. Freud, GW 10, S. 461]])
Wenn beim Analytiker eigene Gefühle gegenüber dem Patienten auftauchen, man spricht von Gegenübertragung, so sind sie durch Selbstanalyse (> Lehranalyse > Supervision) aufzuheben.
Freud selber ist mit diesen Regeln sehr freizügig umgegangen und hat viele nicht analytische Mittel zu Hilfe genommen hat, wie Suggestion, Erziehung, Tröstung, Einsatz subjektiver Wertvorstellungen etc. (vgl. Cremerius 1982, S. 496).
C. G. Jung hat nach der Trennung von Freud eigene Ideen zur Bedeutung der Übertragung erarbeitet: Er ist überzeugt, dass Übertragung ein natürlicher Vorgang ist, der sich aufgrund von > Projektionen überall in menschlichen Beziehungen und nicht zuletzt auch in der Analyse auswirkt. Sie hat nicht nur eine Entstehungsursache, sondern birgt auch Aspekte von Zweck, Sinn und Ziel. Sie beschränkt sich auch nicht nur auf Wiederholungen persönlicher Lebensgeschichte. Es sind auch Inhalte archetypischer Natur de kollektiven Unbewussten, die in die Übertragung zum Analytiker einfließen, sie können also auch Keime zukünftiger Bewusstseinsentwicklung enthalten. Deswegen können auch z. N. religiöse Aspekte zunächst in der Übertragung erfahren werden. Jung zeigt dies an einem Beispiel, in dem der Analytiker in Träumen als "Vater-Geliebter" auftaucht und zunehmend göttliche Züge annimmt. Als Pionier einer bis in die Gegenwart reichenden Weiterentwicklung des analytischen Übertragungkonzepts erweist sich Jung mit der entscheidenden Feststellung, es sei "mit keinem Kunstgriff zu vermeiden, dass die Behandlung das Produkt einer gegenseitigen Beeinflussung ist, an welcher das ganze Wesen des Patienten sowohl wie das des Arztes teilhat". (Jung, GW 16, § 163]]). Daraus entwickelt er ein, an der Quaternio (> Beziehungsquaternio > Heiratsquaternio > Quaternität) orientiertes, Modell der vielschichtigen, bewussten und unbewussten Verflechtungen von Patient und Analytiker, die in der analytischen Situation zur Auswirkung kommen können. Wesentlich ist die Erkenntnis, dass der Analytiker stets ins Geschehen mit einbezogen ist und eine Gegenübertragung auf den Patienten entwickelt. Der Umgang mit der Gegenübertragung, insofern sich letztere für den Patienten förderlich und nicht hinderlich auswirken soll, erfordert vom Analytiker ein hohes Maß an Selbstprüfung und Selbstkritik. Dies ist ein wichtiger Grund für die Forderung nach einer Eigenanalyse (> Lehranalyse) des angehenden Analytikers. Unter anderem soll sie ihm dazu verhelfen, Projektionen eigener unbewusster Inhalte auf den Patienten zu unterscheiden von unbewussten Inhalten des Patienten, die der Therapeut unter Umständen als Signale aus dem eigenen Unbewussten wahrnimmt. Das Modell der Wiederholung kindlicher Problematik spielt als Teilaspekt der Übertragung sowohl für Patienten, als auch für Analytiker ebenfalls weiterhin eine Rolle und sollte stets im Auge behalten werden.
Literatur: Cremerius, J. (1982): Psychoanalyse - jenseits von Orthodoxie und Dissidenz; Dieckmann, H. (Hrsg.) (1980): Übertragung und Gegenübertragung in der Analytischen Psychologie; Jacoby, M. (1993): Übertragung und Beziehung in der Jungschen Praxis.
Autor: M. Jacoby