Bewusstsein, schöpferisches
Keyword: Bewusstsein, schöpferisches
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Definition: Die matriarchale und die patriarchale Bewusstseinseinstellung haben vielfältige Bezüge zu ähnlichen Polaritätspaaren, die in der Kulturgeschichte der Menschheit, ebenso wie auch in der Psychologie, immer wieder eine wichtige Rolle spielen, beispielsweise zum Yin-Yang-Prinzip (> Taoismus), zu den alten Unterscheidungen von Seele und Geist und Fühlen (> Fühlen/Fühlfunktion) und > Denken, Denkfunktion, zum psychoanalytischen > Primärprozess/Sekundärprozess, zum > Fantasiedenken/gerichtetes Denken, zur Unterscheidung von rechts- und linkshemisphärischen Prozessen im Gehirn.
Information: Neumann untersucht die kreative Beziehung zwischen matriarchalem und patriarchalem Bewusstsein u. a. am Beispiel von Leonardo da Vinci, Bosch, Chagall, Trakl (Neumann, 1954, 1959) und von Mozarts Oper „Die Zauberflöte“ (Neumann, 1975). Die unterschiedlichen Arten der Entwicklung zu diesem schöpferischen Bewusstsein und die unterschiedlichen Ich-Selbst-Beziehungsmuster bei Mann und Frau arbeitet Neumann getrennt heraus. Die Entwicklung des Jungen und Mannes beschreibt er vor allem in der Ursprungsgeschichte des Bewusstseins und in Das Kind, die der Frau in Zur Psychologie des Weiblichen und in Amor und Psyche.
Für eine gesunde psychische Entwicklung sind beide Bewusstseinseinstellungen notwendig. Eine zu starke Betonung einer Einstellung und die Vernachlässigung der anderen können zu Störungen im psychischen Gleichgewicht des Einzelnen wie der Gesellschaft führen. E. Neumann sieht, ebenso wie C. G. Jung in seinen kultur- und zivilisationskritischen Analysen, die patriarchale Ich- und Bewusstseinsentwicklung der Moderne zwar als notwendig, aber auch als problematisch und gefährlich an, weil sie inzwischen einseitig geworden ist. Das solar-rationale patriarchale Bewusstsein hat sich über den Weg eines aktiven, männlich-aggressiven und kämpferisch-heldischen Handelns (> Heros-Prinzip) und über eine Identifikation mit dem > Logos-Prinzip entwickelt, dabei aber die Welt des Unbewussten (> Unbewusstes) und die, mit ihr verbundene matriarchale, Bewusstseinseinstellung abgewertet und unterdrückt. Neumann und auch Jung beschreiben das als die Krise des modernen Menschen, als die Gefangenschaft im Patriarchat, die zu „Seelenverlust“, Selbst- und Erdentfremdung führt. “Die Differenzierung, die im modernen patriarchalen Bewusstsein gipfelt, hat auch zur Neurotisierung des modernen Menschen geführt, zu seiner Selbstentfremdung und zu einem gefährlichen Verlust der schöpferischen Lebendigkeit seiner Psyche. Deswegen ist der Wiederanschluss an das Unbewusste, gerade auch für das Männliche, von höchster Bedeutung.“ (Neumann, 1975, S. 101)
Erst wenn sich ein „männlich“-patriarchal orientiertes Bewusstsein mit dem „weiblich“-matriarchalen Bewusstsein verbindet, z. B. über die Integration der Anima/Animus-Aspekte, kann es ganzheitlich und kreativ sein. Ein Ich, das dazu fähig ist, bezeichnet Neumann als integrales Ich (> Ich, integrales). Dementsprechend ist für ihn der schöpferische integrale Mensch die Antwort auf die Krise der Moderne.
Literatur: Neumann, E. (1949 a): Ursprungsgeschichte des Bewusstseins; Neumann, E. (1954): Kunst und schöpferisches Unbewusstes; Neumann, E. (1959): Der schöpferische Mensch; Neumann, E. (1975): Zur Psychologie des Weiblichen; Neumann, E. (1961): Krise und Erneuerung.
Autor: A. Müller