De(s)integration

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Keyword: De(s)integration

Links: > Analyse > Ich-Selbst-Achse > Integration > Selbst > Selbst, primäres/Körperselbst > Synthese

Definition: Desintegration ist der Gegenbegriff zu > Integration (lat. integratio: Einbeziehung, Vervollständigung) und bezeichnet das Auseinanderfallen eines Ganzen in Teile. Meistens wird der Begriff in der Psychiatrie und Psychoanalyse in eher sehr bedrohlichen Zusammenhängen verwendet, bei schweren psychischen Störungen (> Borderline > Psychose), wenn das Zerfallen der verschiedenen Aspekte der Persönlichkeit befürchtet oder erlebt wird (Fragmentierung) oder im Zusammenhang mit Gewalt und Destruktion. Vorübergehende Formen der Desintegration finden sich aber häufig auch im alltäglichen Leben: bei Stress, > Angst und Überforderung („Ich weiß nicht mehr, wo mir der Kopf steht!“), bei Ermüdung oder bei Reizüberflutung. Es gelingt nicht mehr, sich ausreichend zu konzentrieren, man fühlt sich wie „durchgedreht“, „zerrissen“ und „daneben“. Solche Desintegrationsreaktionen bauen sich in der Regel wieder ab, wenn man genügend Zeit und Raum zur Regeneration (Entspannung, Schlaf, Abbau der Stress auslösenden Situationen) findet. Bei starken Belastungen (schweren Erkrankungen, Schock, Trauma/Traumatisierung kann die Desintegration länger dauern (> Krise). Hier ist dann der Halt in einer vertrauensvollen Beziehung besonders wichtig. Der andere Mensch (Partner, Therapeut) muss dem Betreffenden eine Zeit lang bei der Orientierung im Leben helfen, sein Leid mit tragen, mit ihm die notwendigen konkreten Handlungsschritte durchsprechen, ein Teil seiner > Selbstregulation (> Container/Contained) vorüber gehend übernehmen (Vgl. Kast, 1990, S. 101).

Information: Des Weiteren gibt es Formen der Desintegration, die sich auch als schöpferische, spirituelle oder Individuations-Krisen verstehen lassen (> Kreativität > Kreativität, Phasen der > Transpersonale Psychotherapie). Aus Gründen, die mit einer inneren Reifungsdynamik, mit dem Andrängen starker unbewusster Impulse und einer notwendigen Neuorientierung zu tun haben, können sich Desintegrationserlebnisse einstellen. Die bisher gewohnten bewusstseinsmäßigen Einstellungen, Werte und Haltungen sind den anstehenden Umstrukturierungen nicht angepasst, sie müssen aufgelöst und teilweise neu gebildet werden. In der mystischen Tradition (> Mystik) werden solche und ähnliche Zustände als „mystischer Tod“, „die dunkle Nacht der Seele“ oder als „Ich-Tod“ bezeichnet. In Mythen (> Mythos), > Märchen, der > Alchemie (> Alchemie, Phasen des Werkes) und beispielsweise auch im > Schamanismus kennt man das Zerstückelungsmotiv. Dort gehört es oft in den archetypischen Zusammenhang des „Stirb und Werde“, von Tod und Wiedergeburt. Das Ich-Bewusstsein (> Ich/Ich-Bewusstsein, > Ich-Komplex) muss sich hingeben, um durch das > Selbst neu geboren, neu „zusammengesetzt“ zu werden.

Die vorher aus dem Unbewussten andrängenden, aber vom „alten“ Ich-Bewusstsein (z. B. im Symbol des alten, krank gewordenen Königs) nicht assimilierbaren Energien (> Energie), haben dazu geführt, dass sich mithilfe der > Selbstregulation eine erweiterte Ich-Bewusstseinsstruktur aufgebaut hat, die nun besser in der Lage ist, die unbewussten Inhalte zu verarbeiten und in das Gesamt der Persönlichkeit zu integrieren.

„Hier tritt nun aber ein heilsamer kompensierender Effekt hervor, den ich immer wie ein Wunder bestaunen muss. Gegenüber der gefährlichen Auflösungstendenz erhebt sich aus demselben kollektiven Unbewussten eine Gegenwirkung in der Form eines durch eindeutige Symbole gekennzeichneten Zentrierungsvorganges. Dieser Prozess schafft nichts Geringeres als ein neues Persönlichkeitszentrum, welches zunächst durch Symbole als dem Ich überlegen gekennzeichnet ist und sich später empirisch auch als überlegen erweist [...] weshalb ich es als Selbst bezeichnet habe.“ (Jung, GW 16, § 219)

Der Prozess der Desintegration und der Integration ist also, in gewissen Grenzen, ein immer wieder notwendiger psychischer Vorgang.

M. Fordham verwendet – allerdings in einem etwas anderen Kontext – für ein solches Wechselspiel zwischen Ich-Bewusstsein und Selbst die Begriffe De-Integration und Reintegration. Diese Begrifflichkeit hat den Vorteil, dass sie die Desintegration aus dem überwiegend pathologisch erscheinenden Kontext in einen normalen, für jede psychische Entwicklung notwendigen Zusammenhang stellt. Fordham geht davon aus, dass das primäre Selbst (> Selbst, primäres/Körperselbst) alle angeborenen, archetypischen Potenziale des werdenden Menschen enthält. Diese Potenziale müssen aber in einem fortwährenden, lebenslangen Prozess der De-Integration und Reintegration in Beziehung zu einer förderlichen Mit- und Umwelt entfaltet und differenziert werden.

Literatur: Fordham, M. (1974): Das Kind als Individuum; Jacoby, M. (1985): Individuation und Narzissmuss; Kast, V. (1990): Die Dynamik der Symbole.

Autor: L. Müller