Funktion, transzendente
Keyword: Funktion, transzendente
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Definition: C. G. Jung bezeichnet mit transzendenter Funktion (lat. transcendere: hinüber schreiten; in Philosophie und Religion verwendet für: die Grenzen augenblicklich und individuell möglicher Erfahrung übersteigend) die schöpferische (> Kreativität, > Schöpferisches), final orientierte (> Finalität) Fähigkeit der Psyche, Gegensatzpaare (> Gegensatz > Polarität) zu einer > Synthese zu vereinigen. Insbesonder geht es dabei um eine schöpferische Beziehung zwischen Bewusstem und Unbewusstem. Die transzendente Funktion wird besonders in der Kreativität und der Symbolbildung (> Einstellung, symbolische > Symbol > Symbolisierung) sichtbar.
Information: Grundlegend für das Verständnis der transzendenten Funktion ist, dass Inhalte des Unbewussten (> Unbewusstes) eine > Kompensation für Inhalte des Bewusstseins darstellen können und dass Heilung und > Individuation nur in einer schöpferischen Beziehung zwischen Bewusstem und Unbewusstem möglich sind. Jung wählt den Begriff „transzendente Funktion“, weil durch sie Bewusstes und Unbewusstes verbunden werden und ein Übergang von einer Einstellung in eine andere organisch möglich wird (vgl. Jung, GW 8, § 145).
Im therapeutischen Prozess vermittelt der Therapeut dem Patienten die transzendente Funktion, indem er ihm hilft, Bewusstes und Unbewusstes miteinander in Beziehung zu setzen. Dies geschieht z. B. durch seine grundsätzliche > Akzeptanz des Patienten gerade auch in seinen Konflikten, Widerständen (> Abwehrmechanismen > Widerstand) und Widersprüchen, über sein empathisches Verstehen (> Deutung > Verstehen) komplexer Zusammenhänge und durch seine Bereitschaft, unbewusste Informationen ernst zu nehmen (> Beziehung, therapeutische, > Beziehungsquaternio > Prozess, dialektischer). Darin liegt für Jung auch ein wesentlicher Sinn der Übertragungs-/Gegenübertragungs-Beziehung (> Übertragung/Gegenübertragung): Der Patient verbindet sich mit dem Therapeuten, weil ihm dies eine Erneuerung seiner alten und leidvollen Einstellungen verspricht und er an dessen > Selbstregulation partizipiert (> Container/Contained). Darüber hinaus kann das Erwecken und Verstärken der transzendenten Funktion im Patienten selber es diesem ermöglichen, einen eigenen Beitrag zu seiner Heilung zu leisten und sich von der therapeutischen Hilfe zunehmend unabhängig zu machen.
Voraussetzung für die Entfaltung der Wirkungen und Möglichkeiten der transzendenten Funktion ist eine symbolische Einstellung (> Einstellung, symbolische > Symbolisierung), mit der die Manifestationen des Unbewussten nicht semiotisch (als Zeichen) und als elementare Triebvorgänge gedeutet, sondern als dynamische und vieldeutige Symbole (> Symbol) verstanden werden. Hilfreich für den Verstehens-Prozess ist häufig auch die Verdichtung und Gestaltung der Motive, die aus dem Unbewussten auftauchen (> A-H-System > Imagination > Kunsttherapie > Malen aus dem Unbewussten > Tonfeld, Arbeit am):
„Wenn es geglückt ist, den unbewussten Inhalt zu gestalten und den Sinn des Gestalteten zu verstehen, erhebt sich die Frage, wie das Ich sich zu dieser Sachlage verhalte. Damit hebt die Auseinandersetzung zwischen dem Ich und dem Unbewussten an. Dies ist der zweite und wichtigere Teil der Prozedur, die Annäherung der Gegensätze und die Entstehung und Herstellung eines Dritten: der transzendenten Funktion. Auf dieser Stufe hat nicht mehr das Unbewusste die Führung, sondern das Ich.“ (Jung, GW 8, § 181)
M. Sidoli (1993) greift den Begriff der transzendenten Funktion auf und vermutet, dass die transzendente Funktion in Zusammenhang mit der Beschaffenheit der frühen Mutter-Kind-Dyade (> Urbeziehung) steht. Bei manchen, in früher Kindheit gestörten, Patienten könne es in Phasen der Behandlung, wenn sich stärkere Veränderungen ankündigten, zu massiven Somatisierungen kommen. Sidoli versteht dieses als Versagen der transzendenten Funktion aufgrund der Unfähigkeit oder Unmöglichkeit der Patienten, die Inhalte ihrer Kindheitserfahrungen als symbolische Bilder wahrzunehmen, wodurch die mit ihnen verbundenen Affekte (z. B. Überlebensangst oder Panik) abgespalten blieben. Meist seien die Mütter der Patienten nicht ausreichend in der Lage gewesen, den Gefühlen des Kindes ein sicherer Container (> Container/Contained) zu sein und heftige emotionale Entladungen ihrer Säuglinge vermittelnd zu verarbeiten. Körperliche affektive, instinktive Reaktionen und bildhafte Repräsentationen können dann nicht miteinander verbunden und integriert (> Integration) werden.
Dementsprechend kann das Modell der transzendenten Funktion auch ein wichtiger Beitrag zum Verständnis psychosomatischer Erkrankungen und Reaktionen sein.
Literatur: Kast, V. (1990): Die Dynamik der Symbole.
Autor: A. Kuptz-Klimpel