Individuationsprozess: Erste Lebenshälfte

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+Individuationsprozess: Erste Lebenshälfte

Keyword: Individuationsprozess: Erste Lebenshälfte

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Definition: Das Konzept der Unterscheidung des Individuationsprozesses für die erste und die zweite Lebenshälfte gehört zu den spezifischen Ansätzen der Analytischen Psychologie (> Analytische Psychologie > Bewusstseinsentwicklung > Entwicklungspsychologie). Der Individuationsprozess findet seinen Ausgangspunkt im > Selbst und dessen > Selbstorganisation: Im Menschen sind bereits vor der Geburt alle Funktions- und Entfaltungspotenzen der Persönlichkeit latent enthalten und die sich selbst organisierende Tätigkeit des Organismus beginnt mit der ersten Zellteilung. Wann die ersten Ich-Bewusstseins-Keime wirksam werden und Embryonen psychisch zu reagieren und zu verarbeiten beginnen, ist noch ungeklärt. (> Pränatale Psychologe > Säuglingsbeobachtung > Säuglingsforschung)

Information: E. Neumann bezeichnet den vorgeburtlichen Seins-Bereich als uroborische (> Uroborus) > Einheitswirklichkeit. Auch bei sanftestem und kindgemäßestem Vorgehen bezeichnet die Geburt wohl ein gewisses Trauma der "Ur-Trennung", mythologisch: Austreibung aus dem Paradies. Was sich vermutlich bereits vor der Geburt abzeichnet, wird jetzt manifest: die Austreibung aus einem Zustand der ganzheitlichen Urgeborgenheit und Einheit in eine Welt der existenziellen Bedrohung und Gegensätzlichkeit, die Trennung des kindlichen Subjekts vom mütterlichen Objekt, die Trennung eines beginnenden Ich-Bewusstseins von seiner unbewussten Einheit und Ganzheit. Ausgeglichen wird der Verlust der Geborgenheit und der Einheitswirklichkeit durch den Bezug des Kindes zu einer mütterlichen Beziehungsperson und durch die ständige regressive Rückkehr (> Regression) in die Ursprungseinheit (im Schlaf). Das Kind lebt im ersten Lebensjahr und danach nicht nur in einer Welt der von ihm klar getrennten und unterscheidbaren Objekte, sondern in einer engen, quasi symbiotischen (> Symbiose), magisch-mythischen Beziehung zu ihnen und die mütterliche Bezugsperson wird zum projizierten Träger des Selbst (> Selbstobjekt). Diese > Urbeziehung, deren Beschaffenheit die späteren Beziehungsformen stark prägt, ist dominiert vom > Mutterarchetyp und > Vaterarchetyp, d. h. das Kind erfährt seine > Eltern nicht nur in ihrer personalen Existenz, sondern gleichzeitig in ihren archetypischen Urformen als Große Mutter und Großer Vater. In dem Maße, in dem das Kind sein Ich-Bewusstsein (> Ich/Ich-Bewusstsein) entwickelt, beginnt es diese magisch-mythische Welt zu fürchten, weil sie auf sein noch schwaches Ich übermächtig wirken. Im Verlaufe der Entwicklung der motorischen, intellektuellen und sprachlichen Aktivitäten verliert das archetypische Mutterbild an Dominanz. Im Laufe der kindlichen Entwicklung werden Selbstaspekte zunächst auf die Familienmitglieder (> Familie > Geschwisterbeziehung), später dann auf andere wichtige Bezugspersonen wie Kindergärtnerin, Lehrer, Partner, aber auch auf nichtmenschliche Objekte der Außenwelt projiziert (> Idealisierung > Projektion), wodurch diese faszinierend und begehrenswert werden.

Die Ich-Bewusstseins-Entwicklung führt zu einer immer feiner werdenden Differenzierung des Selbst in seine Polaritäten (> Polarität). Das Ich-Bewusstsein wirkt wie eine Streulinse, die das weiße Einheitslicht des Selbst in seine Spektralfarben auflöst. Dadurch werden die verschiedenen Aspekte des Selbst unterscheidbar, erfahrbar, begrifflich erfassbar und können vom Ich-Bewusstsein assimiliert werden. Aber nicht alle Inhalte des Selbst können integriert werden, denn für die Persönlichkeitsentwicklung und Ich-Bildung ist es erforderlich, dass sich das Individuum mit bestimmten Werten identifiziert und andere, diesen entgegenstehende Werte abspaltet und abwehrt. Diese Abspaltung ist ein Produkt der Begegnung des Individuums mit seiner Um- und Mitwelt und seiner Auseinandersetzung mit den Kollektiv-Normen und Kultur-Werten (Bewusstsein, kollektives > Gesellschaft > Ich-Ideal > Kollektiv > Kollektivpsyche > Über-Ich), die ihm durch seine Bezugspersonen vermittelt werden. Durch diese Lernprozesse und die > Internalisierung der Kollektiv-Normen kommt es zur Herausbildung jener Persönlichkeitsaspekte, die in der Analytischen Psychologie > Orientierungsfunktionen, Komplexe (> Komplex), > Persona, > Schatten und > Anima/Animus (> Anima/Animus: Klassische Auffassung) genannt werden.

Die Ich-Bewusstseins-Entwicklung und damit der Identitätsfindungsprozess des Individuums sind also, im optimalen Falle, durch die fruchtbare Wechselwirkung zweier Einflussgrößen, dem Selbst und der Umwelt, gewährleistet. Das Selbst steuert mithilfe der > Selbstorganisation die Ich-Entwicklung durch psychophysische, innere Funktionen und Bedürfnisse wie auch durch seine Erfahrbarkeit in der Projektion auf äußere Objekte, sodass nach und nach ganz bestimmte Selbst-Aspekte von der Persönlichkeit integriert werden können. Welche Aspekte dies sind, wird in gewissem Ausmaß durch die Umwelt bestimmt. Umwelt und Kollektivnormen selektieren im Sozialisationsvorgang, aus der Fülle der im Selbst angelegten Möglichkeiten, die gesellschaftsspezifischen Anteile heraus und erzeugen damit eine Identität (> Identität, personale), die im besten Falle an beidem teilhat. Das Ziel der ersten großen Etappe der Individuation, die im Idealfall in der Lebensmitte (35. -45. Lebensjahr) erreicht ist, könnte folgendermaßen zusammengefasst werden:

Die Persönlichkeit kann in gewissem Rahmen autonom, selbst-bewusst und eigenverantwortlich sowohl Ansprüchen der eigenen Persönlichkeit, als auch der Gesellschaft werden. Die beruflichen, sozialen und partnerschaftlichen Funktionen können befriedigend und relativ störungsfrei erfüllt werden. Die gut entwickelte Persona ermöglicht einen angemessenen sozialen Umgang, hinter der aber die Persönlichkeit des Individuums immer noch deutlich erlebbar bleibt. Die Persönlichkeit hat genügend Stabilität und Kohärenz, sie kann sich sowohl äußeren Ansprüchen gegenüber abgrenzen, als auch ihre Energien (z. B. Triebe und Affekte) ausreichend kanalisieren. Gleichzeitig verfügt sie über genügend Flexibilität, um für neue Erfahrungen, Verhaltensweisen und Lernmöglichkeiten offen zu sein. Sie hat zwei, drei oder vier Orientierungsfunktionen differenziert und zeigt, in der Regel, bevorzugt eine der beiden Einstellungsweisen (mehr oder weniger introvertiert oder extravertiert). Unter archetypischer Perspektive steht die Kindheit unter der weitgehend unbewussten Dominanz des Mutter-, Vater-, Eltern- Kind- und Familienarchetyps (> Bios-Prinzip > Logos-Prinzip > Mystos-Prinzip), die Adoleszenz und das Erwachsenwerden unter der Dominanz des Heros- und des Eros-Prinzips (> Heros-Prinzip > Eros-Prinzip): Autonomie und Beziehung (vgl. auch Kast, 1990, 74 ff.; Riedel, 1997). Es geht um die gesellschaftliche Integration und Etablierung. Die Eltern-Kind-Familien-Archetypen werden neu, nun unter ungekehrten Vorzeichen, belebt. Aus Kindern sind Erwachsene und Eltern geworden, die in ein ähnliches archetypisches Aufgabenfeld und Beziehungsgeschehen verwickelt werden, wie seinerzeit ihre Eltern.

Literatur: Jacobi, J. (1965): Der Weg zur Individuation; Meier, C. A. (1986): Persönlichkeit; L. Müller, L. (2001): Lebe dein Bestes; Riedel, I. (1997): Träume - Wegweiser in neue Lebensphasen.

Autor : L. Müller