Kastration/Kastrationskomplex

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Keyword: Kastration/Kastrationskomplex

Links: > Angst > Bewusstseinsentwicklung > Geschlechtsidentität > Identität > Inzest

Definition: S. Freud verwendet den Ausdruck Kastration (lat. castratitio: Verschneidung, Entfernung, Ausschaltung der Keimdrüsen) in Zusammenhang damit, dass er annimmt, die Entdeckung des Geschlechtsunterschiedes führe bei Kindern zu der Vorstellung der Kastration. Bei Jungen führe das zu entsprechender Kastrationsangst, bei Mädchen zum Penisneid. Besonders wirksam wird die Kastrationsvorstellung bzw. die Vorstellung von der Kastration als Strafe dann, wenn ausgeprägte infantile, sexuelle Fantasien vorliegen sowie in Zusammenhang mit dem > Ödipuskomplex.

Information: Die Konzepte des Kastrationskomplexes, (> Komplex) der Kastrationsangst und des Penisneides werden schon sehr früh kritisiert, u. a. die damit verbundene Vorstellung der "kastrierten Frau". In neueren psychoanalytischen Theorien werden Kastrationskomplex und Kastrationsängste auch in Zusammenhang mit dem Separations-Individuations-Konzept und Trennungserfahrungen gebracht. Die psychoanalytische Vorstellung und Deutung von Kastrationsfantasien und Kastrationsangst hat in der Analytischen Psychologie (> Analytische Psychologie) insofern keine Bedeutung, als diese insgesamt von einem anderen Libido- und Sexualitätsbegriff ausgeht und die herausragende Bedeutung der Sexualität für die Entwicklung der Persönlichkeit so nicht annimmt. Manchmal wird der Begriff symbolisch verwendet, im Sinne einer erlebten Beschneidung von Möglichkeiten.

E. Neumann hat den Begriff der Kastration als symbolisches Bild in Zusammenhang mit der > Bewusstseinsentwicklung und der > Regression des Ich-Bewusstseins im Symbol des Inzests (> Inzest) aufgegriffen und verstanden. Der Inzest (> Inzest, Helden- > Inzest, matriarchaler > Inzest, uroborischer) ist bei Neumann zu verstehen als eine psychische Erfahrung, die im Symbolgeschehen des > Hierosgamos anzusiedeln ist, also der Erfahrung der Verschmelzung von Ich-Bewusstsein und Selbst bzw. Ich-Bewusstsein und Unbewusstem. Generell kann der Kastrationskomplex, symbolisch verstanden, eine Rolle in der Entwicklung des Kindes spielen, weil immer dann, wenn das Kind von einer Entwicklungsphase in die nächste übergeht, Angst entsteht: das Verlassen der > Symbiose kann beispielsweise angstbesetzt sein, weil die symbiotische Mutter bislang übermächtig gewesen ist. Daraus kann > Angst vor Bestrafung oder ein > Schuldgefühl entstehen. Symbolisch können diese Angst in Form von Bildern von Verletzung, Verstümmelung, Gefangenschaft oder Tod erscheinen, also auch in Kastrationsfantasien. Auf die Bewusstseinsentwicklung bezogen spricht Neumann von der Ur-Kastration, der matriarchalen und der patriarchalen Kastration. Die Kastrationssymbolik erscheint typischerweise dann in der > Psyche, wenn das Ich-Bewusstsein dem Unbewussten gegenüber eine feindliche Einstellung hat. Als Ur-Kastration bezeichnet Neumann den Verlust der Ganzheit in der Ur-Elterntrennung. Die Trennung der Ur-Eeltern bedeutet, dass aus der Ureinheit, in die das Ich ganzheitlich eingebettet war, eine Zweiheit geworden ist. Das Bewusstsein identifiziert sich im Augenblick der Trennung mit einem der Gegensätze und hat den anderen verloren, damit beginnt sich das Ich als getrennt zu erleben. (Neumann 1949 a, S. 132) Mit matriarchaler Kastration bezeichnet er einen Verlust des Bewusstseins, eine > Identifikation des Ichs mit dem Unbewussten als der Großen Mutter, eine Herabsetzung des Ich-Bewusstsein (> Ich/Ich-Bewusstsein), da die > Libido ins Unbewusste läuft, so wie es z. B. in einer > Depression als Ausdruck eines passiven Ichs geschieht. Die patriarchale Kastration bezeichnet Neumann im Gegensatz dazu als eine Identifikation des Bewusstseins mit dem Geist-Aspekt (> Logos-Prinzip) oder dem Großen Vater. Das Ich-Bewusstsein ist mit geistigen Inhalten inflationiert (> Hybris > Inflation). Als Symptom erscheint nicht die Depression, sondern die Manie, das Ich ist nicht passiv, sondern überaktiv und nicht mehr mit der Erde und Materie verbunden.

Literatur: Mertens, W., Waldvogel, B. (Hrsg.) (2002): Handbuch psychoanalytischer Grundbegriffe; Neumann, E. (1949 a): Ursprungsgeschichte des Bewusstseins.

Autor: A. Müller