Stimme, innere

Aus aip-lexikon.com
Zur Navigation springenZur Suche springen

Keyword: Stimme, innere

Links: > Bewusstsein, kollektives > Ethik > Individuation > Kollektiv > Moral > Über-Ich

Definition: C. G. Jung nennt das menschliche Gewissen (wissen: sehen, erkennen, erblicken, gesehen haben) in Abgrenzung zum > Über-Ich oder den kollektiven Moralvorstellungen oder dem Sittenkodex auch die innere Stimme. In mythischen und religiösen Bildern wird sie auch als vox die (Stimme Gottes) aufgefasst. Schon in der frühen Philosophie und Religion gibt es die Vorstellung, dass es für jedes sittliche Verhalten (> Ethik) gegenüber Menschen oder Göttern (> Gottesbild > Mythos) einen inneren Mitwisser oder Zeugen gibt. "In all diesen Erscheinungsweisen drückt sich die Tatsache aus, dass die moralische Reaktion einer autonomen Dynamik entspricht, welche passenderweise als Daimon, Genius, Schutzengel, <<besseres Ich>>, Herz, innere Stimme und innerr oder höherer Mensch bezeichnet wird. Unmittelbar daneben, das heißt neben dem positiven, sogenannten <<richtigen>> Gewissen, steht das negative, sogenannte <<falsche>> Gewissen und wird als Teufel, Verfüher, Versucher, böser Geist usw. bezeichnet. Mit dieser Tatsache ist jedermann konfrontiert, der sich von seinem Gewissen Rechenschaft gibt, und zwar muss er zugeben, dass das Maß des Guten das des Bösen bestenfalls nur ein weniges überragt, wenn überhaupt." (Jung, GW 10, § 843)

Information: Jung definiert Gewissen als ein subjektives Werturteil: "ein Wissen um oder Gewissheit über den emotionalen Wert jener Vorstellungen ..., welche wir von den Motiven unseres Handelns haben." (Jung, GW 10, § 825) Dabei unterscheidet er den Standpunkt des bewussten Ich von dem der Gesatpersönlichkeit. Kollektive Moralvorstellungen (> Gesellschaft > Kollektiv > Kollektivpsyche) und Gewissen scheinen oft identisch, aber dennoch ist Gewissen nicht das Ergebnis von gelernten Moralgesetzen, und es ist nicht identisch mit einem in der persönlichen Lebensgeschichte erworbenen Über-Ich. "Es ist auch nicht damit getan, den anerkannten moralischen Werten nachzuleben, denn die Erfüllung von Sitten und Gesetzen kann eben so gut der Deckmantel für eine subtile Lüge sein, die gerade noch zu fein ist, als dass sie unsere Mitmenschen bemerken könnten. Wir vermögen zwar damit vielleicht jeder Kritik zu entgehen, ja vielleicht uns selber zu täuschen im Glauben an unsere so offensichtliche Rechtschaffenheit. Aber tief unter der Oberfläche des Durchschnittsgewissens sagt uns eine leise Stimme: "Es stimmt etwas nicht"; gleichviel, wie sehr auch die öffentliche Meinung oder der moralische Sittenkodex unser Richtigsein unterstützen." (Jung, GW 17, 51)

Die Moralgesetze versteht Jung als archetypische Reaktionen (> Archetyp) auf bestimmte Lebenssituationen und Konflikte. In Normen, Sitten, Konventionen, ethischen und moralischen Gesetzen sind diejenigen archetypischen Fantasien und Bilder verfestigt, die für einen großen Teil eines Kollektivs zunächst stimmige, einleuchtende und befriedigende Antworten oder Reaktionen auf einen Konflikt zu sein scheinen. Das eigentliche individuelle Gewissen bzw. die innere Stimme bekommt dann Bedeutung, wenn ein Einzelner einen kollektiv vorgezeichneten Weg verlässt und in einen neuen Bereich geht. Das Werturteil des eigenen Gewissens kann dann im Einzelfall in Kollision mit den Kollektivnormen, den bewusst erworbenen Werturteilen des Kollektivgewissens geraten. "Das Gewissen - gleichgültig wie es begründet wird - stellt die Forderung an den Einzelnen, seiner inneren Stimme Gefolgschaft zu leisten, auf die Gefahr hin, sich zu irren." (Jung, GW 10, § 841)

Von ihrem archetypischen Kern her besteht hier aber auch eine Ambivalenz: "Erfahrungsgemäß hat der Archetypus als Naturerscheinung einen ambivalenten Charakter, oder - besser gesagt - er besitzt an sich keine moralische Eigenschaft, das heißt, er ist amoralisch wie das jahvistische Gottesbild es im Grunde genommen auch ist, und gewinnt erst durch den Erkenntnisakt moralische Eigenschaften. Darum ist die Urform des Gewissens paradox: einen Ketzer zu verbrennen ist einerseits eine lobenswerte, fromme Handlung, wie Johannes Hus, als er selber auf dem Scheiterhaufen stand, mit dem Ausruf "O sancta simplicitas" überlieferungsgemäß selber anerkannt hat, andererseits aber eine brutale Manifestation ruchloser und grausamer Rachegedanken. Beide Formen des Gewissens, das richtige und das falsche, stammen aus der gleichen Quelle, und beide haben daher annähernd die gleiche Überzeugungskraft." (Jung, GW 10, § 845) Deswegen können widerstreitende moralische Positionen und Gewissenskonflikte bzw. Konflikte zwischen kollektiver Moral und innerer Stimme nur gelöst werden in einer schöpferischen Haltung, die bewusste und unbewusste, rationale und irrationale, moralische und ethische Positionen einander annähern und sie zu einer > Synthese führen kann.

Literatur: Kohlberg, L. (1996): Die Psychologie der Moralentwicklung; Neumann, E. (1949 b): Tiefenpsychologie und neue Ethik.

Autor: A. Müller