Über-Ich-Entwicklung: Unterschied zwischen den Versionen

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Aktuelle Version vom 20. Juli 2024, 12:36 Uhr

Keyword: Über-Ich-Entwicklung (nach Erich Neumann)

Links: > Ethik > Moral > Stimme, innere > Über-Ich

Definition: Aus Sicht der Analytischen Psychologie unterscheidet E. Neumann zwischen Über-Ich, Gewissen und "innerer Stimme" und nennt letztere als die Stimme des > Selbst. Er setzt sich mit der Entstehung des Über-Ichs, der Bildung des Gewissens und dem Schicksal der Stimme des Selbst in der Entwicklung des Kindes (> Entwicklungspsychologie) auseinander.

Die Bildung eines Über-Ichs sieht er im Dienste einer Gewissensbildung mit förderlichen und hemmenden und möglicherweise destruktiven Auswirkungen auf die Persönlichkeitsentwicklung. Sie ist eine Folge der > Zentroversion und der dadurch möglichen Entwicklung des Ich-Zentrums sowie der Entwicklung des patriarchalen Ichs. Erste Ansätze eines Über-Ichs entwickeln sich in der > Urbeziehung und beginnen mit der natürlichen Polarisierung (> Polarität) von Oben und Unten, Kopf und Körper, Gut und Böse. Solange das Selbst der Mutter und des Kindes noch nicht als getrennt erlebt werden, sind die wertenden Äußerungen und Verhaltensweisen der Mutter die des Kindes. Sie werden deshalb vom Kind nicht im Gegensatz zum Selbst erlebt. Auf diese Weise kann das Kind erste Wertungen annehmen.

Information: Generell ist die Polarisierung und die danach folgende Unterscheidung und Abwertung eines Pols nicht krankheitserregend. Wird die Ablehnung des Unteren dann aber im Patriarchat zum Kampf gegen das > Böse, kann sich - wenn das Böse vernichtet werden soll - die Tendenz zur Destruktion mit dem Über-Ich koppeln, was innerpsychisch zu Scham- und Schuldgefühlen und Zwangshandlungen führen kann. Wenn das geschieht, geraten Selbst und Über-Ich in Konflikt, und es kann ein negatives, strenges Über-Ich daraus resultieren. Neumann spricht von einer patriarchalen Krise und einer analen Kastration, wenn die patriarchalen Werte die Lebendigkeit des Individuums beeinträchtigen, wenn der Geist im Gesetz sich zwingend gegen die Natur des Menschlichen durchsetzt, wenn das Körper-Selbst angegriffen, entwertet, geschädigt wird. Es entsteht ein Schuldgefühl, das aber - da schon ein Ich existiert - nicht, wie das Urschuldgefühl (> Urschuld) gegen das Selbst gerichtet ist. Aus diesem Schuldgefühl heraus kann dann eine destruktive Verstärkung des Über-Ichs und des Zwangs einsetzen.

Diese patriarchale Kastration und das negative Über-Ich sind Folge einer nicht geglückten Polarisierung, nicht Folge einer gesunden Gewissensbildung. An sich ist das Über-Ich nicht prinzipiell negativ, strafend, überfordernd, destruktiv. Eine Gewissensbildung und Moralentwicklung sind für Neumann (wie auch für Jung) ein menschliches Grundbedürfnis und eine soziale Notwendigkeit. Jeder Mensch steht in dauernder Auseinandersetzung mit den Tendenzen des Selbst und den Anforderungen der Umwelt wie auch mit dem erworbenen Über-Ich und deswegen in Konflikten. Diese Konflikte führen im günstigen Fall zur Progression, Integration und Synthese in der Ich-Entwicklung, nicht zu Unterdrückung, Strafangst und Schuldgefühlen, solange das Kind in einem ausgeglichenen und ausgleichenden Wertekanon und Umfeld lebt.

In der Entwicklung des Individuums nach der > Pubertät ist die Entwicklung des Über-Ichs nicht abgeschlossen: In dem Maße, in dem ein Individuum sich an das Kollektiv und dessen Werte und Normen anpasst, wird das Über-Ich Vertreter des Kollektivs in der Persönlichkeit. Das Über-Ich löst dann die Stimme ab. Mit Stimme meint Neumann eine transpersonale Erfahrung, die mit dem Selbst verbindet und deshalb die Orientierung des Individuums an seiner eigenen Wahrheit, seinem Selbst, seiner Ganzheit ermöglicht. In der Kindheit wie auch in früheren Bewusstseinsstadien des Bewusstseins ist die Verbindung zu dieser Stimme sehr stark, sie muss dann aber zunehmend aufgegeben werden, um die Werte des Kollektivs, des Patriarchats anzunehmen und im Kollektiv leben zu können (> Personalisierung, sekundäre). So nötig die Gewissensbildung als Überichbildung ist, so sehr ist sie doch auch ein Entwurzelungsprozess. Wenn die Werte des Kollektivs oder Kulturkanons sich ändern, und damit die Basis des Über-Ichs verloren geht, fehlt dem Individuum im ungünstigen Fall, wenn es sich zu sehr von seinen Wurzeln getrennt hat, sowohl die Stimme wie auch das Über-Ich. Dann geht es darum, wieder Verbindung zur inneren Stimme, also zum Selbst zu finden.

Literatur: Neumann, E. (1963): Das Kind.

Autor: A. Müller