Böses: Unterschied zwischen den Versionen
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Aktuelle Version vom 20. Juli 2024, 12:02 Uhr
Keyword: Böses
Links: > Ethik > Moral > Schatten"
Definition: Das Böse ist ein Aspekt des Schattens (> Schatten). Während der Schatten, allgemein gesprochen, moralisch indifferent ist und allein durch die, ihm innewohnende (weitgehend unbewusste), Dynamik definiert ist, geht das Böses mit einem Werturteil und einer eigentümlichen Ambivalenz einher: Das Werturteil besteht in einer Negativität des Handelns (im Unterschied zum Übel, das aus physikalischen Ursachen entsteht, zum Beispiel ein Erdbeben oder eine Krankheit). Die mit dem Bösen zusammenhängende Ambivalenz rührt daher, dass das Böse letztlich nie um seiner selbst willen gewählt wird, sondern um irgendeines, womöglich illusionären, Gutes willen, sei es der eigene Vorteil auf Kosten des missbrauchten, verlassenen, getöteten oder in anderer Weise geschädigten Anderen, sei es im Namen eines Ideals, das die Vernichtung von Leben in Kauf nimmt oder sogar einfordert.
Information: In „Aion“ reflektiert C. G. Jung den Unterschied zwischen dem persönlichen, dem Relativ-Bösen, einerseits, das wir im Rahmen der Bewusstwerdung assimilieren können, und der „ebenso seltenen wie erschütternden Erfahrung“, dem archetypischen Schatten, „dem Absolut-Bösen ins Auge zu sehen“ (Jung, GW 9/2, §19). Nach dem Zusammenbruch der Nazidiktatur (> Nationalsozialismus) und der Abkehr von einer „alten Ethik“, die sich in der Schattenprojektion erschöpfte (Neumann, 1948) können zwei große Perioden in der Auseinandersetzung der Analytischen Psychologie (> Analytische Psychologie) mit dem Problem des Bösen unterschieden werden:
1. Das Ringen des späten C. G. Jung um eine eigene Position angesichts der (vorwiegend christlich geprägten) klassischen Metaphysik;
2. Die Reflexion über das fiktionalisierte und banalisierte Böses in einer nach-metaphysischen, post-theozentrischen und „post-modernen“ Zeit.
zu 1: Der späte Jung warnt vor der Gefahr, das Böse durch metaphysische Spekulationen rationalisierend weg zu erklären. Wiederholt wendet er sich gegen die im Neuplatonismus entstandene und besonders von Augustinus vertretene Lehre von der „privatio boni“ (lat. privatio: Beraubung, Ermangelung; lat bonus: gut). Damit ist gemeint, dass dem Bösen nur eine vom Guten durch Beraubung/Ermangelung abgeleitete Realität zukommt, da nur dem Guten “Sein in Fülle“ zuzusprechen ist. Demgegenüber stellt das Böse der metaphysischen Tradition zufolge eine Art Seins-Verlust dar. Entgegen der Mehrheitsmeinung der abendländischen Philosophie und Theologie will Jung das Böse als eine göttliche Wesensäußerung verstehen, die ebenso real sei wie die in Christus inkarnierte gute, lichtvolle Seite. Die abendländische Tradition hatte den metaphysischen Gut-Böse-Dualismus, der z. B. im Manichäismus gegeben ist, stets vermieden. Jung hingegen stützt sich auf die Auseinandersetzung mit der dunklen Seite Gottes im Judentum, etwa was die Rolle Satans in Antwort auf Hiob (vgl. Jung, GW 11) betrifft. Er greift aber auch philosophisch-theologische Minderheitenpositionen, z. B. im Spätwerk des Philosophen F. v. Schelling oder in der Dogmatik des reformierten Theologen K. Barth, auf. Jungs Auseinandersetzung mit der klassischen Metaphysik ist ebenso von Missverständnissen geprägt wie die seiner Kritiker mit Jungs Aussagen. Aufgrund der scholastischen Enge der damaligen Theologie ist es seinem wichtigsten theologischen Gesprächspartner, dem Dominikaner V. White, nicht gelungen, tragfähige Brücken zwischen der Polemik Jungs und der metaphysischen Spekulation zu bauen. Erst heute, mit einem besseren Verständnis des geisteswissenschaftlichen und auch biografischen Hintergrunds, kann es gelingen, diesen schwierigen und intensiven Dialog fortzuführen (Lammers 2012).
2) Der gegenwärtige geistesgeschichtliche Hintergrund ist von einer Fiktionalisierung und Banalisierung des allgegenwärtigen Bösen, von der Konstellation des negativen Poles des Selbst-Archetypus geprägt (Emrich, 2002; Lesmeister, 1999). Das Böse tritt nun nicht mehr als Element eines spekulativen Systems, als Folge ethisch-bewusstseinspsychologischer Theorie oder als Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtung auf, sondern als archetypisch-bildhafte Faszination. Die Erfahrung individueller und vor allem kollektiver Destruktivität wird in Bilder gebannt, die sich weitgehend der symbolisierenden Kraft der Psyche entziehen, weil sie einen parasitären und intrusiven Charakter tragen. Die Postmoderne greift damit vor-neuzeitliche, bzw. romantisch gegenneuzeitliche Motive auf (das Unheimliche, Dunkle, der Doppelgänger usw.).
Die > Analytische Psychologie hat in dieser Diskussion eine besondere Chance, weil sie einerseits aufklärerisches Erbe einbringen kann (ohne rationalistisch das Problem des Bösen einer begrifflichen Pseudo-Lösung zuzuführen) und andererseits den imaginalen Aspekt des Bösen und seiner Bewältigung reflektieren kann. Sie wird darin nicht der > Inflation mit dem archetypischen Schatten das Wort reden, sondern reflektieren, wie das sprachlich nur ansatzweise einzuholende Böse ins > Bild kommt. Der ordnende und abgegrenzte (therapeutisch gesprochen: die Symbolisierungsfähigkeit fördernde) > Mundus imaginalis schafft das Böse und die archetypische Wirkmacht seiner Bilder nicht ab. Angesichts der kollektiven Inflation durch das imaginäre Böses vermittelt er jedoch den Kontakt zu jenen kollektiven imaginalen Strukturen und individuellen Ressourcen, die zu einem realistischen Umgang mit dem Bösen notwendig sind.
Literatur: Battke, M. (1978): Das Böse bei Sigmund Freud und C. G. Jung; Franz, M. -L. v. (1961): Das Böse; Neumann, E.: Neue Ethik.
Autor: E. Frick