Nationalsozialismus
Keyword: Nationalsozialismus
Links:> Archetyp > Böses > Inflation > Kollektivpsyche > Schatten > Unbewusstes, kollektives
Definition: Der Nationalsozialismus ist eine nationalistische, rassistische und antisemitische völkische faschistische Bewegung, die sich nach dem 1. Weltkrieg unter Führung von A. Hitler zur NSDAP organisiert hat; ab 1933 wird durch die Partei ein totalitaristisches nationalsozialistisches System in Deutschland errichtet, 1945 wird das System zerschlagen.
Information: Die Frage, welche Haltung C. G. Jung zum Nationalsozialismus einnahm und ob er eine antisemitische Haltung hatte, ist Gegenstand anhaltender Diskussionen und Kontroversen. Jung selbst hat sich zu verschiedenen Zeiten seines Lebens zu diesem Thema geäußert, und seine Äußerungen wurden unterschiedlich interpretiert. Sowohl Jungs Verhalten als Vorsitzender der Internationalen ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie wie auch als Herausgeber einer Fachzeitschrift gemeinsam mit einem Neffen des Reichsmarschalls Göring unterliegt der Kritik. Jung versucht nach 1933 offenbar mit den Gegebenheiten der Gleichschaltungspolitik der Nationalsozialisten gegenüber Fachgesellschaften und Verbänden so umzugehen, dass die gleichgeschalteten deutschen Psychiater innerhalb der internationalen Gemeinschaft bleiben können. Die Zusammenarbeit mit ihnen wird erst 1939, als diese auf politischem Wege die gesamte Internationale Gesellschaft gleichschalten wollen, beendet.
Diese Art des Umgang mit den Nationalozialisten - sie spiegelt sich auch in der offiziellen Politik als Apeacement- oder Beschwichtigungspolitik - lässt sich kritisch sehen als Unreflektiertheit im Umgang mit dem Totalitarismus und von einer gewissen Affiziertheit mit totalitaristischen, rassistischen und faschistischen Ideen. Zum politisch umstrittenen Verhalten Jungs kommen auch Äußerungen, die als eine antisemitische und generell rassistische Haltung kritisiert wurden.
Ursprünglich sind Formulierungen über eine unterschiedliche jüdische und germanische Psyche im Zusammenhang mit seiner polemischen und affektgeladenen Auseinandersetzung und Abgrenzung gegenüber S. Freud und A. Adler zu finden, die beide Juden gewesen sind. Auch Freud äußert sich damals durchaus ähnlich über psychische Unterschiede zwischen Juden und Nichtjuden. Erheblich in ihrer Brisanz verschärft hat sich die Frage der antijüdischen Haltung Jungs dann in den 30er Jahren durch Äußerungen in Artikeln wie auch in Briefen. 1934 beschreibt Jung in „Zur gegenwärtigen Lage der Psychotherapie“ (vgl. Jung, GW 10) damals gängige Klischees über das "jüdische Wesen" und das "Judentum", ohne sich davon zu distanzieren.
Angesichts des schon lange vor dem Nationalsozialismus schwelenden und dann in Deutschland Politik gewordenen Antisemitismus und Rassismus erscheint es aus heutiger Sicht problematisch, dass Jung tatsächlich geglaubt hat, er könne wertfrei von einer germanischen oder jüdischen Psyche sprechen, indem er betont, es gehe ihm nur um die Feststellung der Andersartigkeit von psychischen Voraussetzungen. Zwar ist das hinter diesen Äußerungen sichtbar werdende Konzept der > Kollektivpsyche an sich nicht dazu angetan, menschenverachtend zu sein, aber eine ungenügende Distanzierung von kollektiven Vorgängen wie auch von persönlichen Komplexen aufgrund mangelnder Bewusstheit kann, das zeigt sich in dieser Diskussion deutlich, zur Untermauerung von destruktiven und menschenverachtenden Positionen beitragen.
Nicht nur Antisemitismus und Rassismus werden Jung vorgeworfen, sondern auch Sympathie für die nationalsozialistische Ideologie und Bewegung. Zudem würden seine Archetypen- und Ganzheitskonzeption (> Archetyp > Ganzheit), seine unkritische Haltung gegenüber der Symbolik (> Symbol) des Unbewussten (> Unbewusstes, kollektives) generell und zu mythologischen Bildern, seine romantisch-gnostische Grundhaltung (> Gnosis) und seine Hinwendung zu religiösen und transzendenten Vorgängen (> Alchemie > Hermetik > Mystik > Religion) entsprechende Ideologien und Denkweisen fördern können.
In der Zeit zwischen 1933 und 1945 hat Jung, teilweise das Böse ahnend, das Archetypische der germanischen Bewegung verfolgt, nachzulesen in seinem Aufsatz „Wotan“ von 1936 (Jung, GW 10).
In „Nach der Katastrophe“ (Jung, GW 10) versucht er sich 1945 auch angesichts von Vorwürfen, die gegen ihn erhoben wurden, zu rechtfertigen. Er beschreibt die Verantwortung aller, nicht nur der Deutschen, für die Katastrophe in Nazi-Deutschland, schließt sich und alle Nicht-Deutschen in ein "Wir“ mit ein. Erst jetzt sei ihm klar geworden, inwieweit ihn die gesamte Katastrophe angehe.
In den Schriften nach 1945 wird sein Ringen mit dieser Thematik häufig spürbar. Die jüdische Mitarbeiterin A. Jaffé gesteht Jung zu, dass nicht nur er, sondern auch sehr viele andere die nationalsozialistische Gefahr nicht rechtzeitig ernst genug genommen haben, und dass er später unter den Zeitumständen und seiner hoffnungsvoll abwartenden Haltung sehr gelitten und seine Auffassungen verändert habe (vgl. Jaffé, 1968).
Im Rahmen der Aufarbeitung dieser Thematik haben im Auftrag der Deutschen Gesellschaft für Analytische Psychologie M. von der Tann und A. Erlenmeyer 1991 (erweitert 1993), eine ausführliche Dokumentation zusammengestellt. Darüber hinaus liegen zahlreiche weitere Auseinandersetzungen zum Thema Jung und der Nationalsozialismus vor, z. B. A. Erlenmeyer (2001), T. Evers (1987), M. Jacoby (1992), R. Lesmeister (1992), M. Neumann (1992).
B. Spillmann fasst ihre Gedanken und Ergebnisse so zusammen: "Jung geriet in eine politische Zeit, der er nicht gewachsen war - und wenn es auch Menschen gab, die ihr aufrecht haben begegnen können, bleibt die Frage an jeden einzelnen von uns, wie wir wohl bestanden hätten. Persönliche seelische Disposition trug zusätzlich dazu bei, dass Jung in einen Strudel von Kräften geriet, die ihn zeitweise mit sich fortrissen. Dennoch bleibt er daneben in seiner Genialität und als Schöpfer eines unabsehbar reichhaltigen Werks, aber auch in seiner Menschlichkeit bestehen. Das beschattete Bild Jungs mag uns Nachgeborene vor verhängnisvoll blinder Gefolgschaft und unseliger Verschmelzung mit dem idealisierten Objekt bewahren. Es setzt uns überdies einen Stachel, der jederzeit schmerzhaft an Zerrissenheit und Scheitern erinnert und uns auch stets an eigene Schattenhaftigkeit, Begrenztheit und Unzulänglichkeit mahnt." (Spillmann, 1998, S. 293)
Literatur: Bair, D. (2005): C. G. Jung. Eine Biographie; Evers, T. (1987): Mythos und Emanzipation; Jaffé, A. (1985): Parapsychologie, Individuation, Nationalsozialismus; Spillmann, B. (1998): Die Wirklichkeit des Schattens; Tann, M., v. d., Erlenmeyer, A. (1993): C. G. Jung und der Nationalsozialismus.
Autor: A. Müller