Bindung

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Keyword: Bindung

Links: > Beziehung > Container/Contained > Entwicklungspsychologie > Mutterarchetyp > Säuglingsbeobachtung > Säuglingsforschung: Entwicklung > Säuglingsforschung: Ergebnisse > Urbeziehung

Definition: Ausgehend von den Arbeiten von J. Bowlby (1907- 1990) und dessen Untersuchungen für die Weltgesundheitsorganisation WHO über die psychische Befindlichkeit von Eltern und heimatlos gewordenen Kindern, bezieht sich der Begriff Bindung heute vor allem auf die beobachtbare und objektivierbare, frühkindliche Mutter-Kind-Beziehung. M. Ainsworth entwickelte 1969 ein standardisiertes Instrument zur Messung von Bindung in der Mutter-Kind-Beziehung zwischen dem 12. und 18. Lebensmonat des Kindes: die „Fremde Situation“. Sie besteht aus acht fest definierten Phasen („Episoden“), von je drei Minuten Dauer, mit zweimaliger Trennung von Mutter und Kind unter Hinzunahme einer fremden Person, die das Kind bei den Trennungen zu trösten versucht. Je nach den kindlichen Reaktionsmustern wird unterschieden in: sicher gebundene Kinder (50-60 %); unsicher-vermeidend gebundene Kinder (30-40 %); unsicher-ambivalent gebundene Kinder (10-20 %); Kinder mit desorganisiertem Verhaltensmuster.

Information: Nach derzeitigen Vorstellungen (vgl. Brisch, 1999) spielen in das entstehende Bindungsverhalten mütterliche und kindliche Faktoren hinein: von kindlicher Seite angeborene Faktoren wie höhere Irritabilität und schwächere Orientierungsreaktion, mütterlicherseits „Feinfühligkeit“ (Ainsworth, 1977) im Umgang mit dem Kind sowie mütterliches Bindungserleben, infolge eigener Lebensgeschichte, inklusive Traumata oder Trennungserlebnissen.

Die Bindungsrepräsentation Erwachsener kann, mittels des Adult Attachment Interviews (Main, 1985), exploriert werden. Nach neueren Untersuchungen (Brisch, 1999, S. 54) werden Bindungsmuster zu 70 % von Generation zu Generation weitergegeben. Das Bindungsverhalten kann gegenüber beiden Elternteilen verschieden etabliert sein. Sicher gebundene Kindergartenkinder suchen in Konfliktsituationen häufiger prosoziale Lösungen. Symptomatisch manifestieren sich Bindungsstörungen in fehlendem, undifferenziertem, übersteigertem, gehemmtem, aggressivem Bindungsverhalten oder Bindungsverhalten mit Rollenumkehr (Parentifizierung). Über immunologische und neurohumorale Regelprozesse sind Verbindungen zu psychosomatischen Symptombildungen anzunehmen. Allgemein wird vermutet, dass sichere Bindungserfahrungen die psychische Stabilität und Widerstandsfähigkeit gegen psychische Verletzungen erhöhen. Nach heutigem Wissenstand sind unsichere und desorganisierte Bindungserfahrungen und Bindungsrepräsentationen vor allem bei Patienten mit Borderline-Persönlichkeitsstörungen (> Borderline), Agoraphobie (Platzangst), sexuellem Missbrauch in der Kindheit, bei Adoleszenten mit suizidalem Agieren (> Suizid), bei psychiatrischen Patienten mit > Schizophrenie und forensischen Patienten anzunehmen. In ihren konkreten und praktischen Anwendungen hat sich die Bindungsforschung, außer der Arbeit am Bindungsverhalten von Kindern und Jugendlichen, auch den Müttern zugewandt. Mit der Bearbeitung präkonzeptioneller Bindungsprobleme, pränataler und postnataler Bindungsstörungen (postpartal depressive oder psychotische Mütter, Frühgeborenen-Problematik) soll frühzeitig korrigierend oder stützend auf die dyadische Mutter-Kind-Beziehung eingewirkt werden. Unter der Perspektive der Analytischen Psychologie(> Analytische Psychologie) ist die Bindungsthematik überwiegend dem > Archetyp der Großen Mutter (> Mutter, Große) und dem > Mutterkomplex zuzuordnen, entwicklungspsychologisch der Phase der > Urbeziehung. Darüber hinaus wurde der Begriff Bindung von C. G. Jung gelegentlich als Bindung bzw. Abhängigkeit oder Fixierung des Patienten an den Therapeuten, im Sinne einer Übertragung, verwendet (vgl. Jung, GW 16, §138f; Jung, GW 17, § 260).

Literatur: Bowlby, J. (1975): Bindung; Brisch, K. H. (1999): Bindungsstörungen.

Autor: B. Gramich