Idealisierung

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Keyword: Idealisierung

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Definition: Bei der Idealisierung (lat. idealis: Sinnbild, Leitbild, Wunschbild der Vollkommenheit; idealisieren: die Wirklichkeit verklären, etwas zum erstrebenswerten Ideal erheben) werden einem anderen Menschen, einer Sache oder auch einer Idee überhöhte, ideale Eigenschaften zugeschrieben, die Idealvorstellungen, Wünschen oder Sehnsüchten des Zuschreibenden entsprechen oder auch seiner Unerfahrenheit entstammen.

Information: In der Kindheit werden Eltern oder Erwachsene häufig idealisiert, weil ein starkes Missverhältnis zwischen den eigenen Fähigkeiten und denen der Erwachsenen besteht. Das Kind erlebt Erwachsene, weil sie mehr können und wissen als es selbst, oft als vollkommen, allmächtig und allwissend; unterstützt wird dieses Erleben durch Projektionen (> Projektion) von archetypischen Bildern wie z. B. dem der Großen Mutter, des Großen Vaters, des Göttlichen usw. Diese Idealisierungen können eine Zeit lang sehr wichtig und notwendig im Aufbau gesunder Selbst- und Objektrepräsentanzen (> Selbstrepräsentanz > Objektrepräsentanz) sein, weil sie u. a. als Vorbilder dienen, mit denen ein Kind sich identifiziert. Auf diese Weise können auch Eigenschaften übernommen werden (> Internalisierung), die dem Lustprinzip und den Bequemlichkeitstendenzen widerstreben (soziale, altruistische Fähigkeiten, Frustrationstoleranz, Triebaufschub etc.). Auch in der Verliebtheit werden die geliebten Partner oft idealisiert und als ganz besondere, außergewöhnliche Menschen wahrgenommen. Die Idealisierung ist dabei nützlich, um gegenseitige Grenzen und Unterschiede schneller überwinden zu können und bereit zu sein, mit einem - eigentlich fremden - Menschen eine Partnerschaft und Familie zu gründen. Natürlich kann diese Idealisierung später als großer Fehler bereut werden. Idealisierungen dienen sehr häufig der Stabilisierung der Ich-Kohärenz und des eigenen Selbstwertgefühls (> Selbstwertgefühl). Hat man Beziehungen zu besonderen Menschen, fühlt man sich aufgewertet. Idealisierungsneigungen verringern sich in dem Maße, in dem das Selbstwertgefühl wächst und eigene Lebens- und Leistungs-Kompetenzen erworben werden.

Idealisierungen finden sich auch in therapeutischen Beziehungen, insbesondere dann, wenn sich der Patient aufgrund seines Leidensdruckes und seiner Angst in einem besonders regressiven Zustand befindet. Der Therapeut wird dann als ein besonders reifer, "individuierter" Mensch gesehen, oft mit magischen Attributen ausgestattet, und es werden auf ihn archetypische Inhalte übertragen (> Magier, der/die Alte Weise, der Wunder-Heiler etc.). Diese Idealisierungen werden natürlich auch begünstigt durch das Ungleichgewicht in der Beziehung, durch das spezielle > Setting und den Nimbus, der mit dem Arzt- und Psychotherapeuten-Beruf verbunden ist. Sie können eine Zeit lang hilfreich und notwendig sein (> Hoffnung), die Therapiemotivation und die Selbstheilungskräfte begünstigen, sollten aber vonseiten des Therapeuten nicht gefördert oder zu lange aufrechterhalten werden (> Schatten, therapeutischer), um den Patienten nicht in Abhängigkeit zu halten. "Oft kommen Leute zu mir in der Erwartung, ich würde jetzt einen medizinischen Zauber loslassen. Dann sind sie enttäuscht, wenn ich sie wie normale Menschen behandle und mich wie ein normaler Mensch benehme. Eine Patientin hatte in einem anderen Sprechzimmer nur den "schweigenden Gott" hinter ihrem Sofa erlebt. Als ich mit ihr zu sprechen begann, sagte sie erstaunt, fast entsetzt: "Aber Sie äußern ja Affekte, Sie äußern sogar Ihre Meinung!" Natürlich habe ich Affekte und zeige sie auch." (Jung, 1986, S. 220) Gelegentlich sind hinter solchen Idealisierungen - außer den beschriebenen Wünschen nach narzisstischer Aufwertung und Verschmelzung mit der idealisierten Person - auch aversive Gefühle verborgen: Enttäuschung, Entwertung, Feindseligkeit, die man abwehrt oder abspaltet und möglicherweise dann auf andere Personen überträgt.

Literatur: Jacoby, M. (1985): Individuation und Narzissmus; Jacoby, M. (1991): Scham-Angst und Selbstwertgefühl; Kast, V. (1990): Die Dynamik der Symbole.

Autor: L. Müller