Narzissmus

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Keyword: Narzissmus

Links: > Kompensation > Größenfantasien > Minderwertigkeitsgefühl > Selbstwertgefühl > Selbstpsychologie

Definition: Der Begriff Narzissmus (griech. narkissos, lat. narcissus: Name einer Zwiebelblume, vermutlich aufgrund des starken Duftes angelehnt an griech. narke: Krampf, Lähmung, Erstarrung) wird in der Tiefenpsychologie hergeleitet aus der antiken mythischen Erzählung von Narkissos, dem schönen Jüngling, der sich in sein eigenes Spiegelbild verliebt. S. Freuds 1914 veröffentlichte Schrift " Zur Einführung des Narzissmu“s beginnt mit: "Der Terminus entstammt der klinischen Deskription und ist von P. Näcke 1899 (neuere Version von Havelock Ellis) zur Bezeichnung jenes Verhaltens gewählt worden, bei welchem ein Individuum den eigenen Leib in ähnlicher Weise behandelt wie sonst den eines Sexualobjekts, ihn also mit sexuellem Wohlgefallen beschaut, streichelt, liebkost, bis es durch diese Vornahmen zur vollen Befriedigung gelangt. " (Freud, GW 10, S. 138).

Information: Die > Psychoanalyse sieht dann eine als "Narzissmus zu bezeichnende Unterbringung der > Libido" in viel weiterem Umfang. Das spezifisch Narzisstische besteht aber immer darin, dass sich das vitale seelische Interesse ausschließlich auf die eigene Person konzentriert und nicht auf den anderen Menschen, auf das so genannte > Objekt (> Objektbeziehungstheorie). D. h. der andere Mensch wird nicht in seinem eigenständigen Anderssein, sondern nur im Hinblick seines Einflusses auf die eigene Befindlichkeit - gleichsam als Spiegel (> Spiegeln) - wahrgenommen und beurteilt. Freuds angeführte Schrift - 1914, kurz nach der Trennung von Jung verfasst - bedeutet zugleich eine Auseinandersetzung mit den Modifikationen Jungs am Begriff der Libido, u. a. mit dessen Begriff der > Introversion. (> Freud-Jung-Beziehung) Für Freud heißt Introversion libidinöse Hinwendung zu den "Objekten der Erinnerungen", während Narzissmus die Libido bezeichnet, welche das eigene Ich (> Ich/Ich-Bewusstsein) besetzt. Für Jung ist Introversion Hinwendung zum Innenleben, das nicht nur "Objekte der Erinnerung", sondern auch archetypische Aspekte (> Archetyp) des kollektiven Unbewussten (> Unbewusstes, kollektives) beinhaltet.

Den Begriff des Narzissmus als solchen hat Jung kaum verwendet. (vgl. Jacoby, 1985, S. 44f). Der Narzissmus-Begriff unterliegt auch in der Psychoanalyse Veränderungen. Freud hat ihn auch im Sinne eines normalen Enwicklungsstadiums aufgefasst, als primären Narzissmus, ein Stadium, in dem das kindliche Ich sich selbst genüge. Diese Sicht ist allerdings schon 1937 durch die Beobachtung "primärer Objektliebe" bezweifelt worden. (vgl. Balint 1937/66, S. 110) E. Neumann stellt den primären Narzissmus und die Verwendung des Begriffs Narzissmus ebenfalls in Frage, für ihn wird in diesem Begriff ein gesundes Phänomen pathologisiert. Der von ihm so benannte > Anthropozentrismus ist Ausdruck der gesunden Entwicklung der > Ich-Selbst-Achse] (Automorphismus]] > Zentroversion > Filialisierung des Ich): das kindliche Ich erfährt sich im Laufe der Bewusstwerdung als Mittelpunkt seiner Selbst und als Mittelpunkt seiner Welt (vgl. Neumann, 1963, S. 63). Auch die moderne > Säuglingsforschung kann den primären Narzissmus nicht bestätigen.

Schon von Freud wird auch eine "innige Abhängigkeit" des Selbstgefühls von der narzisstischen Libido erkannt. Da seither in der > Psychoanalyse vor allem das > Selbstwertgefühl mit dem Begriff des Narzissmus belegt ist, darf Narzissmus als solcher nur als wertfrei aufgefasst werden. Somit muss zwischen gesundem und pathologischem Narzissmus unterschieden werden. Gesunder Narzissmus ist gleichbedeutend mit genügend realistischer Einschätzung seiner selbst und grundlegender, "liebender" Akzeptanz des eigenen So-Seins, was auch kritische Selbstbefragung mit einschließt. Pathologischer Narzissmus zeigt sich u. a. in ausschließlicher Selbstbezogenheit, Instabilität in der Selbstwerteinschätzung, Schwankungen von Gefühlen eigener Großartigkeit zu solchen totalen Unwerts (> Kompensation > Minderwertigkeitsgefühl > Selbstwertgefühl > Größenfantasien), und Mangel an Einfühlung in die Seinsweise anderer Menschen. Es besteht "narzisstische Kränkbarkeit", d. h. Überempfindlichkeit gegenüber leisesten Anzeichen von Infragestellung des eigenen Selbstwerts vonseiten der Umwelt. Dies kann zu depressivem Rückzug (> Depression), Isolation, aber auch zu Rachebedürfnissen führen, um Gefühle erniedrigender Entwertungserlebnisse zu kompensieren. Es besteht Gefahr der Ausweitung in "narzisstische Wut" (vgl. Kohut 1973, S. 514), deren Spektrum vom schnell abklingenden Zornausbruch bis zum tiefsten und starren paranoiden > Hass reicht. H. Kohut und O. Kernberg haben in den 70er Jahren des 20. Jhs. zur Entstehungsgeschichte und Psychodynamik narzisstischer Störungen innovative Beobachtungen vorgelegt und auch entsprechende Vorschläge zu deren Behandlung erarbeitet. Kohut hat in Konsequenz seiner modifizierten Anschauungen und Methoden bezüglich Narzissmus und dessen Störungen eine neue psychoanalytische Theorie entwickelt, die heute als > Selbstpsychologie bezeichnet wird. Es zeigt sich, dass grundlegende Gesichtspunkte der Kohutschen Selbstpsychologie sehr kompatibel sind mit den Konzepten und Vorgehensweisen innerhalb der Analytischen Psychologie (> Analytische Psychologie). Viele von Kohuts Gesichtspunkten können deshalb mit Gewinn als Ergänzung in die prinzipielle Offenheit des Jungschen Ansatzes integriert werden. (vgl. Asper, 1987; Jacoby, 1985; Schwartz-Salant, 1991).

Literatur: Asper, K. (1993): Verlassenheit und Selbstentfremdung; Jacoby, M. (1985): Individuation und Narzissmus; Kohut, H. (1974): Narzissmuss.

Autor: M. Jacoby