Ich-Selbst-Achse
Keyword: Ich-Selbst-Achse
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Definition: Der Begriff Ich-Selbst-Achse ist von E. Neumann in die Analytische Psychologie eingeführt worden und soll die dynamische Beziehung zwischen Ich und > Selbst als Achse veranschaulichen, weil Ich und Selbst miteinander verbunden sind und die gesamte Entwicklung und Gestaltung der Persönlichkeit von dieser wechselseitigen Beziehung getragen wird.
Die Ich-Selbst-Achse ist die Mitte eines komplexen Mit- und Gegeneinanders von Prozessen, die sich zwischen dem Unbewussten und dem dirigierenden Ganzheitszentrum des Selbst auf der einen und dem Bewusstsein und dem Ich-Zentrum auf der anderen Seite abspielen. Dies stellt sich so dar, als ob auf dieser Achse die beiden Zentren und Systeme sich voneinander entfernen und sich einander annähern. „Die Filialisierung des Ich vom Selbst ist dabei mit der Entstehung der Ich-Selbst-Achse und mit einer «Entfernung» des Ich vom Selbst identisch. Diese Entfernung erreicht in der ersten Lebenshälfte mit ihrer System-Trennung des Psychischen in Bewusstes und Unbewusstes und mit der scheinbaren Autonomie des Ich ihren Höhepunkt. In der Individuation der zweiten Lebenshälfte kommt es umgekehrt zu einer Wiederannäherung des Ich an das Selbst. Aber abgesehen von diesen grundsätzlichen altersmäßigen Schwerpunktverschiebungen der Ich-Selbst-Achse ist sie normalerweise dauernd in «Bewegung», denn jede Bewusstseins-Veränderung ist gleichzeitig eine solche der Ich-Selbst-Achse. Nicht nur im Schlaf und Traum, bei jedem psychischen Prozess findet eine Veränderung in der Beziehung vom Bewusstsein zum Unbewussten statt und ebenso eine solche in der Beziehung von Ich und Selbst.“ (Neumann, 1963, S. 51f.)
Sowohl die Filialisierung des Ich vom Selbst als auch die Wirkung der > Zentroversion sind Ausdruck davon, dass die I. schon von Anfang an in der Psyche angelegt ist. Die Bildung und Entwicklung des Bewusstseins sowie jede Veränderung, Krise, Störung, Erweiterung und Wandlung der Persönlichkeit spiegelt sich im Verhältnis zwischen Ich und Selbst an dieser »Achse«. Solange das Selbst als Zentrum noch unbewusst ist, bleibt auch die I. unbewusst, die in dieser Phase deswegen auch als Selbst-Ich-Achse bezeichnet werden kann. Die Entwicklung der I. und ihr Mit- und Gegeneinander von Ich und Selbst wird schon in der →Urbeziehung zwischen der Mutter und Kind vorbereitet. Mit der Entstehung des Ich-Bewusstseins beim Kind und dem Erscheinen der I. als «inneres» Grundphänomen der Psyche, wird nach außen die Ich-Du- und die Subjekt-Objekt-Trennung in der Beziehung zum Du und zur Welt als einem Gegenüber sichtbar. „Die Basis des →automorphen Selbstbewusstseins ist die positive I., eine zunächst unbewusste Erfahrung von der Übereinstimmung des individuellen Ich mit der Ganzheit «seiner Natur», seiner Anlage, also letztlich mit dem Selbst.“ (Neumann, 1963, S. 47)
Das in einer normal geglückten Urbeziehung entstandene Vertrauen zum «Du» der menschlichen Umwelt sowie zum eigenen Körper und zum Selbst ist die Grundlage für die Festigkeit der Ich-Selbst-Achse, die das Rückgrat des individuellen > Automorphismus und der späteren Festigkeit des Ich und des Ich-Bewusstseins darstellt. Die in einer positiven Ich-Selbst-Beziehung sich ausdrückende «Kontaktfähigkeit», die in der Urbeziehung aufgebaut wird, steht wie der Kontakt zum eigenen Körper und zum →Körper-Selbst im engsten Zusammenhang mit der Entwicklung der I. und ihrer Sicherheit. „Auf der positiven Urbeziehung fußend, entwickelt der Mensch ein psychisches System, dessen Zentren Selbst und Ich darstellen, die in der I. zusammengeschlossen sind. Sie ist die Grundlage der Ausgleichs- und Gleichgewichtstendenz der Persönlichkeit, und an ihr spielt sich die > Kompensation nicht nur zwischen dem Ich und dem Unbewussten ab, sondern auch die zwischen der Welt und dem Individuum.“ (Neumann, 1963, S. 137)
Die innere kopernikanische Wende in der Tiefenpsychologie, die mit der Erfahrung einhergeht, dass das menschliche Leben nicht mehr vom Ich aus zu verstehen ist, sondern vom Selbst her, um das dieses Ich kreist wie die Erde um die Sonne, vollzieht sich über die Automorphismusals das tragende Phänomen des Psychischen und der Persönlichkeit. Das > Mandala des Selbst als Mitte der Psyche und das Mandala des Bewusstseins, dessen Mitte das Ich bildet gehören in der Weise zusammen, dass das untere die Basis des oberen, das Selbst die Wurzel des Ich und die Verbindung beider Zentren die I. ist. Die I. etabliert sich damit auch als Achse der selbstständig werdenden Persönlichkeit, die sich von der →Einheitswirklichkeit abhebt. Der Zusammenhang des Ich-Bewusstseins mit dem archetypischen und dem Selbst-→Feld wird durch die I. hergestellt, die sich als Zentralachse erweist, welche das Ordnungsphänomen der Gestalt und damit die Möglichkeit der Erkenntnis überhaupt begründet.
Literatur: Neumann, E. (1953): Die Psyche und die Wandlung der Wirklichkeitsebenen – Ein meta-psychologischer Versuch; Neumann, E. (1963): Das Kind.
Autor: G. Walch