Individualpsychologie
Keyword: Individualpsychologie
Links: > Kompensation > Macht > Minderwertigkeitsgefühl > Selbstwertgefühl
Definition: Die Individualpsychologie ist von Alfred Adler (1870-1937) in Wien gegründet worden. Er hat von 1902 bis 1911, als eines der ersten Mitglieder, dem psychoanalytischen Kreis um S. Freud angehört und seine Ideen sind von Freud zunächst als eine wertvolle Ergänzung des Wissens über die Neurose aufgenommen worden. 1911 kommt es zum Bruch zwischen Freud und Adler, wobei dieser noch lange auf eine Einigung gehofft und den Ausschluss aus dem Kreis als tiefe, lang anhaltende persönliche Kränkung und Demütigung erlebt hat. Adlers Theorie baut auf folgenden Vorstellungen auf: 1. Grundlegend ist die Einheitlichkeit des menschlichen Organismus und des Körper-Seelischen. Schlüsse über die Person sind deshalb nicht aus ihrem Denken und Empfinden abzuleiten, sondern aus ihrem Gesamtverhalten. Das Verhalten kann nicht lügen, drückt die Persönlichkeit aus. Persönlichkeit ist gleichbedeutend mit der Einheit des Ich. Damit wird die Unterscheidung in Bewusstes und Unbewusstes psychodynamisch irrelevant. 2. Ein lebendiger Organismus ist zweckhaft, der Zweck ist die Erhaltung des Organismus, kein Einzelteil kann sich aus diesem grundlegenden Zweck befreien. Damit ist alles Lebendige auch beseelt. 3. Die gesamte Persönlichkeit ist ziel-haft, final (> Finalität) orientiert. Man kann auch jeden > Konflikt aus der Zielrichtung der Person heraus verstehen. Denken, Fühlen und Wollen haben immer ein Ziel und dies ist einem einheitlichen Lebensplan eingeordnet. 4. Der Mensch ist selbstverantwortlich. Es gibt Instinkte, Triebe, Angeborenes, Erworbenes, sie sind aber nicht bestimmend, sondern der Mensch ist frei, sich dazu je zu stellen. 5. Ausgangspunkt der persönlichen Zielsetzung ist das Erleben der Minderwertigkeit (> Minderwertigkeitsgefühl > Selbstwertgefühl). Sie ist objektiv gegeben und damit also Aufgabe für jedes Kind. Minderwertigkeit und Geltungsstreben bedingen sich. Aus ursprünglichem Minderwertigkeitserleben (des Kindes) entsteht kompensatorisch Geltungsstreben, das der Gottähnlichkeit zustrebt. Das ist inhärent vorgegeben. Entscheidend ist, ob Erlebnisse das minderwertige Gefühl oder das Geltungsstreben bestätigen. Jeder gelungene Schritt führt zu Stolz, Genugtuung, jeder misslungene zu Scham und Wut. 6. Wenn Selbstvertrauen und Mut zu gering sind, kommen Ersatzgeltungen zum Tragen, z. B. durch ausweichen in die Fantasie, Tagträume, in den Trotz, in die Verhaltensstörung.
Information: Insgesamt betont Adler die Bedeutung der sozialen Bedingungen für die psychische Entwicklung des Individuums. Adler nimmt ein > Unbewusstes an, das Träger der Kräfte des Lebensziels ist und als solches nicht disparat zum Bewusstsein. Es gestaltet den Lebensplan aus. Inhalte werden ins Bewusstsein oder Unbewusste geschoben, je nachdem ob dies dem Lebensplan dient oder nicht. Auftretende Gegensätze dienen alle dem einen Ziel der Erhöhung der Persönlichkeit. Unbewusst Bleibendes oder Verdrängtes dient auch der Vermeidung von Irritationen und Unsicherheit im bewussten Bild des Menschen. der > Traum geht immer voraus, denkt an die Zukunft, sucht eine Lösung, die dem Lebensentwurf entspricht. Er ist ein Abkömmling der Fantasie und zeigt, dass der Träumer sich mit einem Problem beschäftigt und wie er sich dazu stellt. Er ist durch die Endabsicht konstelliert. Er soll auch eine Stimmung schaffen, die dem Erreichen des Zieles dient. Adler schätzt die tatsächliche Wirkung des Traumes jedoch gering ein. Träume dienen in der Behandlung dazu, nachzuweisen, dass der Träumer Arrangeur seiner Neurose ist. Der therapeutische Ansatz der Individualpsychologie geht von einer Grundhaltung der Ermutigung und von der Notwendigkeit der Einfühlung (> Empathie) aus. Ziel ist die Aufdeckung des neurotischen Systems oder Lebensplans. Der Therapeut ist ein Berater, der Irrtümer im Lebensplan aufdecken hilft, dem Patienten aber die Verantwortung für sich und sein Verhalten überlässt. Wenn der Lebensplan aufgedeckt ist, beginnt die Arbeit des Patienten.
Adlers Konzepte sind oft in abgewandelter Form und ohne ihn zu nennen in andere Theorien integriert worden. Beispielsweise nimmt Adler schon 1908 einen eigenständigen Aggressionstrieb an, der erst viel später von Freud aufgegriffen wird. Das Konzept des Minderwertigkeitsgefühls und dessen > Kompensation durch das Geltungsstreben taucht später in der > Selbstpsychologie auf, ohne gebührende Erwähnung zu finden. Bedeutende Nachfolger Adlers sind: Erwin Wexberg, ein direkter Schüler Adlers, der auch seine Arbeiten mit verfasst hat und Fritz Künkel, der einen integrativen Ansatz, unter Einbeziehung von Freud und Jung, gesucht hat. Auch Viktor Frankl ist von Adler beeinflusst und baut auf ihm seine Existenzanalyse auf.
Literatur: Adler, A., Ansbacher, H. (2004): Alfred Adlers Individualpsychologie: eine systematische Darstellung seiner Lehre in Auszügen aus seinen Schriften; Dreikurs, R. (1994): Grundbegriffe der Individualpsychologie; Künkel, F.: (1980): Die Arbeit am Charakter.
Autor: D. Knoll