Spiritualität, weibliche

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Keyword: Spiritualität, weibliche

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Definition: Weibliche Spiritualität [> [Männliches und weibliches Prinzip]]) ist zu verstehen als eine religiöse Befreiungsbewegung. Dabei geht es um die Kritik und Veränderung von religiösen Deutungs- und Sinnsystemen, die Frauen als Entfremdung erleben, als Unmündigkeit in geistigen Vater-Tochter-Verhältnissen. Weibliche Spiritualität umfasst verschiedene Strömungen. Ihre Hauptthemen sind u. a. die Wiederentdeckung matriarchaler Symbolsysteme (> Matriarchat > Mutter, große), feministisch-theologische Auseinandersetzungen mit biblischen Traditionen, der Mangel an symbolischer Autorität des Weiblichen in patriarchal geprägten Religionen, ein Verständnis des Göttlichen als Kraft in Beziehungen. Die Grundethik (> Ethik) der weiblichen Spiritualität betont, alles Lebendige zu achten und zu ehren als Ausdrucksgestalt des Göttlichen. Für heutige Frauen geht es im Bereich der Spiritualität vor allem um die Wiederentdeckung weiblicher Gottesbilder, Gottesvorstellungen, weiblicher Mysterien und Lebensthemen, um die Aneignung des kollektiven religiösen Erbes, um Spiritualität als ganzheitliche Lebenserfahrung auf der Höhe des heutigen Bewusstseins.

Information: Von zentraler Bedeutung ist die Wiederentdeckung weiblicher Gottesbilder als archetypische Urbilder, z. B. die weibliche Trinität der Göttin in den drei Gestalten des jungen Mädchens, der erwachsenen reifen Frau und der alten weisen Frau und Todesgöttin. Die Göttin wird nicht verstanden als eine göttliche Übermutter, als Pendant zum allmächtigen Vatergott. Sie wird gesehen als Wirklichkeit hinter vielen Namen, Bildern und Symbolen, allgegenwärtig, in allem Lebendigen, seinsmächtig in jedem Menschen, die Erfahrung der tiefsten Ebenen des Seins. Göttin-Symbole (> BIOS-Prinzip > Eros-Prinzip) werden von Frauen als inspirierend erfahren, ihre Stärke und Selbstachtung wieder zu entdecken und sich von seelischen Beschädigungen und Einseitigkeiten religiöser Sozialisation zu heilen (> Bewusstsein, patriarchales). "Ehre die Göttin in dir selbst, preise dein Selbst und du wirst sehen: das Selbst ist überall", heißt es in einem Gebetstext. (Starhawk, 1987, S. 28 )

Diese Vorstellung ist C. G. Jungs Verständnis des numinosen Selbst (> Numinoses) sehr nahe. Frauen brauchen eine Göttin, ein Weiblich-Göttliches, um die zu werden, die sie sein können, so die französische Psychoanalytikerin und Philosophin L. Irigaray. Von ähnlichen Positionen aus beschäftigen sich in der Analytischen Psychologie E. Harding, J. S. Bolen und I. Riedel mit Frauenmysterien, den Göttinnen in jeder Frau, den Bildern der großen Göttinnen in Mythen und > Märchen und weiblichen Mystikerinnen (> Mystik) wie z. B. Hildegard von Bingen. Eine besondere Bedeutung im Bereich der jüdischen und christlichen Religiosität hat die Gestalt der Sophia, der weiblichen Weisheit als ein ganzheitliches, auf gute Lebenspraxis, Mitgefühl, Erkenntnis des Herzens und Verbundenheit mit allem Lebendigen ausgerichtetes Gottesbild. Weibliche Spiritualität bedeutet ein Sich-Einlassen auf Bilder und Symbole, die die patriarchalen Beschränkungen des Weiblichen transzendieren und Frauen dabei helfen, ein anderes Verständnis von weiblicher Identität selbst zu formulieren. Sie ist als notwendiges Korrektiv in allen religiösen Traditionen heute wirksam: im]] > Christentum ebenso wie im > [[Buddhismus, Islam, Hinduismus und im Bereich der jüdischen Religion. Frauen entwickeln neue ganzheitliche Formen von Spiritualität in feministischen Liturgien, Jahreskreisfesten, Gruppenmeditationen, neue Formen der spirituellen Wegbegleitung, sowie Aktivitäten als spirituell-politisches Engagement im Bereich der Friedens- und Ökologiebewegung. 

Weibliche Spiritualität ist ein Ausdruck befreiter religiöser Individualität, die Männer nicht ausschließt, sondern einlädt, sich auf Erfahrungen einzulassen, die traditionell als weiblich verstanden werden, aber auch als Seelenanteile des Mannes entfaltet und gelebt werden wollen (> Anima/Animus). Entscheidend ist der gelebte Bezug zum Transzendenten. Auch Jung betont, dass die Beziehung zum Transzendenten für seelische Gesundheit und das Gelingen der Individuation von entscheidender Bedeutung ist. Für ihn ist ebenfalls das zentrale Symbol das imago dei: "Das Gottesbild ist keine Erfindung, sondern ein Erlebnis, das sua sponte den Menschen antritt; was man zur Genüge wissen kann, wenn man nicht Verblendung durch weltanschauliche Vorurteile der Wahrheit vorzieht. Das (zunächst unbewusste) Gottesbild ist in der Lage, den Bewusstseinszustand zu verändern, wie auch dieser am (bewussten) Gottesbild seine Korrekturen anbringen kann." (Jung, GW 9/2, § 303) Beide Phänomene, sowohl die Veränderung des Bewusstseinszustands als auch die Korrekturen am bewussten Gottesbild sind in der weiblichen Spiritualität heute beobachtbar, denn das imago dei ist keine beharrende Form, sondern einwirkende Kraft.

Literatur: Bolen, J. S. (1989): Göttinnen in jeder Frau; Dorst, B. (1997): Wiederkehr der Göttin und Abschied vom Vatergott; Irigaray, L. (1989): Göttliche Frauen; Starhawk, (1987): Der Hexenkult als Urreligion der Großen Göttin; Whitmont, E. C. (1989): Die Rückkehr der Göttin.

Autor: B. Dorst