Selbst: Unterschied zwischen den Versionen

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Aktuelle Version vom 20. Juli 2024, 12:02 Uhr

Keyword: Selbst

Links: > Analytische Psychologie > Ganzheit > Gottesbild > Ich-selbst-Achse > Individuation > Individuationsprozess > Kreativität > Kreativität, Phasen der > Mandala > Mystos-Prinzip > Schöpferisches > Selbstregulation > Selbstwertgefühl

Definition: Das Selbst ist der zentrale Begriff der Analytischen Psychologie. Er geht über den Selbstbegriff der Umgangssprache wie auch der meisten psychologischen und psychoanalytischen Theorien (> Säuglingsforschung > Selbsterleben > Selbstkonzept > Selbstpsychologie > Selbstrepräsentanz) weit hinaus. Er bezeichnet die sich selbst regulierende (> Selbstregulation) Einheit und polar-paradoxe Ganzheit des individuellen menschlichen Organismus in seiner unabtrennbaren Beziehung zu seiner Mit- und Umwelt. Das Selbst enthält das allgemein menschliche, archetypische (> Archetyp) und individuelle Potenzial. Es organisiert und strukturiert alle Entwicklungsprozesse körperlicher wie psychischer Art (> Automorphismus > Individuation > Individuationsprozess, Phasen der > Zentroversion). Die Aspekte und Entwicklungsmöglichkeiten, die im Selbst als Potenz angelegt sind, hängen in ihrer Realisierung von den förderlichen oder hemmenden Bedingungen seiner Mit- und Umwelt ab. das > Ich-Bewusstsein ist dabei der bewusste Aspekt des Selbst, mit dessen Hilfe das Selbst sich zu orientieren und partiell selbst zu reflektieren vermag (> Ich > Ich-Bewusstsein > Ich-selbst-Achse > Filialisierung des Ich).

Information: Das Selbst hat - und dies ist ein wesentlicher Unterschied zu den psychoanalytischen Auffassungen - nicht nur personale Aspekte, sondern auch kollektive (> Kollektiv > Kollektivpsyche) und transpersonale. Die archetypische Dimension der Ganzheit des Selbst symbolisiert sich in den Bildern und Begriffen der höchsten menschlichen Werte, wie sie in den Religionen und Philosophien, der Mystik und Kunst dargestellt werden, z. B. als das unergründliche Geheimnis (> Mystos-Prinzip), als das Universum, als die Ur-Energie, die kosmische Intelligenz, das Sein, das Eine ohne ein Zweites, die Schöpfung, das Leben, die goldene Blüte, das Atman, Tao, das göttliche Prinzip, als Göttin und Gott, der göttliche Funken, als inneres Licht, die allumfassende > Liebe, als Sophia, > Magier, göttlicher Heros (> Heros-Prinzip) oder als das göttliche Kind (> Kind, göttliches). In den Märchen und Heldenmythen ist es das Ziel der Suchwanderung, die "schwer zu erreichende Kostbarkeit" oder das Wasser des Lebens, in der Kabbala das "En Soph", in der > Alchemie der "Stein der Weisen". Dieser relativ unbestimmten Selbstsymbolik gegenüber stehen auch genau bestimmte Symbole der Einmaligkeit.

"Das Selbst ist nicht nur unbestimmt, sondern enthält auch paradoxerweise den Charakter der Bestimmtheit, ja der Einmaligkeit. Dies ist wohl einer der Gründe, warum gerade diejenigen Religionen, welche historische Persönlichkeiten zu Begründern haben, zu Weltreligionen geworden sind, wie das Christentum, der Buddhismus und der Islam. Die Einbeziehung der einmaligen menschlichen Persönlichkeit (und dies besonders in Vereinigung mit der nicht bestimmbaren göttlichen Natur) entspricht eben dem absolut Individuellen des Selbst, welches Einmaliges mit Ewigem und das Einzelne mit dem Allgemeinsten verbindet. Das Selbst ist eine Vereinigung der Gegensätze. Dieser Gegensatz (der von Hell und Gut einerseits und Dunkel und Böse anderereits, Anm. d. Verf.]]) ist das eigentliche Weltproblem, welches vorderhand noch ungelöst ist. Das Selbst aber ist absolute Paradoxie, indem es in jeder Beziehung Thesis und Antithesis und zugleich Synthesis darstellt." (Jung, GW 12, § 22]]) Oft erwähnt C. G. Jung auch eine alchemistische Aussage, nach der Gott ein Kreis ist, dessen Mittelpunkt überall und dessen Peripherie nirgends ist und bezieht diese Definition auch auf das Selbst.

Das Selbst kann auch als Ur- oder Basis-Archetyp verstanden werden, denn die Idee einer allumfassenden Einheit (> Monismus) und Ganzheit der Existenz, aus der heraus sich individuelle Existenz entwickelt, ist in allen Kulturen zu finden. Sie ist die umfassendste archetypische Vorstellung, die alle anderen archetypischen Aspekte in sich enthält. Das Selbst ist Summe aller]] > [[Polaritäten und > [[Paradoxien, eine Synthese aus Vergangenem, Gegenwärtigem und zukünftigen Entfaltungsmöglichkeiten, aus Licht und Schatten, "Göttlichem" und "Teuflischem", aus "Weiblichem" und "Männlichem", aus Gesundem und Pathologischem, aus Werdendem und Sterbendem. Der alles umfassende und vereinigende Charakter drückt sich vielen Selbstsymbolen aus, beispielsweise im]] > [[Mandala, im chinesischen Yin/Yang-Symbol, im Kreuz oder in der Vereinigung von Mann und Frau (> Androgynie > Coniunctio > Hermaphrodit).

Das Selbst zugleich als empirische wie auch als eine hypothetische Modellvorstellung zu verstehen, bedeutet aber, dass die > [[Analytische Psychologie, wenn sie über ganzheitliche, einheitliche und religiöse Symbole und Symbolsysteme oder metaphysische Inhalte und Ideen (> Metaphysik) im weitesten Sinne spricht, sich nur über die psychischen Aspekte dieser Phänomene äußert. Sie beobachtet, dass die Psyche eine Tendenz und Bereitschaft zu metaphysischer, religiöser oder transpersonaler Erfahrung hat, und sie beobachtet und analysiert die daraus resultierenden psychologischen Wirkungen und Folgen. Über metaphysische Hintergründe, etwa dem Sein oder dem Göttlichen an sich macht sie keine Aussagen. Der Selbst-Begriff besitzt naturgemäß den Charakter des Allumfassenden und Totalen. So wie auch beim Begriff der > [[Ganzheit muss das Konzept deswegen immer wieder kritisch hinterfragt werden, weil mit der Begrifflichkeit Vorstellungen von Absolutheit, Endgültigkeit, Grandiosität und Vollkommenheit hervorgerufen werden können. Wie verführerisch solche Vorstellungen sind, zeigen alle großen religiösen und politischen Ideen]] > Nationalsozialismus), die in gewissem Sinne immer auch Aspekte der Sehnsucht nach dem Selbst ausdrücken. Jung ist deshalb nicht müde geworden, vor einer]] > [[Identifikation mit solchen Vollkommenheits-Vorstellungen zu warnen (> Hybris,  > Inflation) und stattdessen die "Vollständigkeit" zu betonen, wobei auch in diesem Begriff ("Voll“) ein verborgener Rest des Vollkommenheitsgedankens mitschwingt. Von daher ist es wichtig zu betonen, dass der Begriff des Selbst - wie alle anderen Begriffe der > [[Analytischen Psychologie auch - als hypothetischer Begriff den Versuch darstellt, über eine symbolische Annäherung einen vorhandenen aber unbekannten Sachverhalt zu umkreisen und zu erfassen. "Intellektuell ist das Selbst nichts als ein psychologischer Begriff, eine Konstruktion, welche eine uns unerkennbare Wesenheit ausdrücken soll, die wir als solche nicht erfassen können, denn sie übersteigt unser Fassungsvermögen, wie schon aus ihrer Definition hervorgeht. Sie könnte ebenso wohl als "der Gott in uns" bezeichnet werden. Die Anfänge unseres ganzen seelischen Lebens scheinen unentwirrbar aus diesem Punkte zu entspringen, und alte höchsten und letzten Ziele scheinen auf ihn hinzulaufen. Dieses Paradoxon ist unausweichlich, wie immer, wenn wir etwas zu kennzeichnen versuchen, was jenseits dieses Vermögens unseres Verstandes liegt.“ (Jung, GW 7, § 399]]) 

Literatur: Franz, M. -L. v. (1985]]): Die Suche nach dem Selbst; Grof, S. (1994]]): Das Abenteuer der Selbstentdeckung; Jacoby, M. (1985]]): Individuation und Narzissmus; Müller, L. (2001]]): Lebe dein Bestes.

Autor: L. Müller