Individuation
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Definition: Individuation (lat. individuum: das Ungeteilte, das Einzelwesen, das nicht mehr weiter geteilt werden kann, ohne seine Ganzheit zu verlieren) bezeichnet den psychischen Differenzierungs- und Integrationsprozess (> Differenzierung >Integration), der die Entwicklung der individuellen > Persönlichkeit zum Ziel hat. "Individuation bedeutet: zum Einzelwesen werden, und, insofern wir unter Individualität unsere innerste, letzte und unvergleichbare Einzigartigkeit verstehen, zum eigenen Selbst werden. Man könnte "Individuation" darum auch als "Verselbstung" oder als "Selbstverwirklichung" übersetzen. " (Jung, GW 7, §266 f.)
Information: Individuation ist ein Selbstwerden, Selbstentwickeln, Selbstentfalten der menschlichen Persönlichkeit im bewussten Aufnehmen möglichst vieler unbewusster und bewusster Anteile, die die > Persönlichkeit konstituieren. Zu den Grundvoraussetzungen der Individuation gehört, dass das > Selbst als Ausdruck des Ganzen (> Ganzheit > Ganzwerdung) verstanden wird, also als Vollständigkeit der Persönlichkeit und nicht als Perfektion oder Vollkommenheit. Die Erhaltung der Gegensatzspannung (> Gegensatz > Polarität) zwischen hell und dunkel, gesund und krank, erwachsen und kindlich, kollektiv und individuell ist dabei entscheidend, da sonst die Persönlichkeit in ein einseitiges Muster (> Persona > Ideal-Ich > Identifikation) gezwängt würde, das den freien Fluss der Energien (> Energie > Libido) behindert. Obwohl das Ich-Bewusstsein (> Ich/Ich-Bewusstsein) von großer Bedeutung für die Individuation geht es doch nicht primär um die Ich-Entwicklung, sondern die Realisierung der Ganzheit des Selbst. "Ich sehe aber immer wieder, dass der Individuationsprozess mit der Bewusstwerdung des Ich verwechselt und damit das Ich mit dem Selbst identifiziert wird, woraus natürlich eine heillose Begriffsverwirrung entsteht. Denn damit wird die Individuation zu bloßem Egozentrismus und Autoerotismus. Das Selbst aber begreift unendlich viel mehr in sich als bloß ein Ich: es ist ebenso der oder die anderen wie das Ich. Individuation schließt die Welt nicht aus, sondern ein." (Jung, GW 8, § 432)
Individuation ist gebunden an soziales Leben und soziale Verantwortung (> Beziehung) und zugleich an eine verantwortlichen Arbeit an individuellen Unterschieden: die Selbstwerdung des Menschen beruht auf der Integration kollektiver Anteile (> Gesellschaft > Kollektiv) wie individueller Besonderheiten.
Wird das Bedürfnis nach Individuation gehemmt, entstehen Konflikte (> Konflikt) und seelische Erkrankungen. Solche Faktoren können ebenso sehr erlebte Defizite wie ein Überangebot an Befriedigungsmöglichkeiten sein. Sowohl der Mangel als auch die Verwöhnung können die Individuation behindern. Auch soziale, determinierende Werte, zu enge Normen (> Bewusstsein, kollektives > Überich) führen zu Konflikten mit sich und der Umwelt. Aus solchen Konflikten entwickeln sich häufig Kompromissbildungen in Form von psychischen Störungen (> Neurose). Sie können aus, in früheren Entwicklungsstadien, entstandenen Entwicklungshemmungen resultieren oder aktuell zu jeder Lebenszeit durch Traumatisierungen (> Trauma/Traumatisierung) als Aktualneurosen entstehen. Da es keine idealtypischen Bedingungen zur Entwicklung des Lebens gibt, kann davon ausgegangen werden, dass der Individuationstrieb in jedem Menschen mehr oder weniger eingeschränkt ist.
Das Einlassen auf die Individuation kann Lebenssinn und Lebensfülle vermitteln, denn die Beziehung zum Selbst bewirkt Kontakt mit der Quelle, dem Schöpferischen (> Schöpferisches) des Lebens. Der daraus resultierende Lebenssinn ist ein dynamischer, der sich dem Lebensprozess entsprechend ständig wandelt und auf jeder Altersstufe andere Formen annimmt. Im Individuationsprozess, der ein archetypischer, d. h. auch ein allgemeinmenschlicher Prozess ist, wird der Mensch mit den Grundfragen des Lebens und des Menschseins konfrontiert. Dazu gehört, in jedem Lebensalter je nach Herausforderung der Aufgabe eine individuelle Antwort zu finden: Mann oder Frau zu sein ist zwar kollektiv, aber die eigene Natur verlangt eine persönliche Gestaltung. Das Gleiche gilt für die Aufgabe, ein junger oder alter Mensch zu sein. Diese Aufgaben müssen in Eigenverantwortung geleistet und dürfen keiner äußeren, gesellschaftlichen oder ideologischen Institution oder Autorität überlassen werden. Aus der Summe der einzelnen individuellen Antworten auf die einzelnen Herausforderungen ergibt sich die individuelle Persönlichkeit als individuierte Persönlichkeit. Der Individuierte unterscheidet sich von seinen Mitmenschen nicht durch besondere, idealmenschliche Qualitäten - er fühlt sich, im Gegenteil, in besonders tiefer Weise mit ihnen verbunden - besitzt aber vielleicht den Vorzug einer etwas größeren > Bewusstheit und Selbstverantwortung gerade auch hinsichtlich des eigenen menschlich-allzu-Menschlichen und der eigenen Schattenseiten (> Schatten, persönlicher).
Diskusssion: Der Analytischen Psychologie (> Analytische Psychologie) wird gelegentlich vorgeworfen, ihr Konzept des Individuation führe zu einer Art individualistischer Nabelschau, bei der der Blick für die gesellschaftliche Realität verloren gehe. Diese Auffassung beruht auf Unkenntnis und Missverständnissen und vor allem ist sie Ausdruck eines tiefen Misstrauens gegenüber der eigenen, innersten seelischen Natur des Menschen. Ein Entwicklungsprozess, der die Erfahrung der Ganzheit des Lebens zum Ziele hat und diese Ganzheit definiert, als die Summe aller möglichen Gegensätze, kann niemals ohne Bezug zur und ohne Relevanz für die Gesellschaft sein. Individuation und Sozialisation sind keine gegenläufigen, sondern in ständiger Interaktion sich befindende Prozesse. Individuation ist in jeder Phase nur innerhalb eines Wechselspiels zwischen Individuum, Mitmensch, Gesellschaft und Umwelt möglich. Deshalb ist jeder wirkliche Fortschritt im Individuationsprozess immer zugleich auch ein Beitrag für die Gesellschaft und für die Evolution.
Das Ergebnis des Individuation-Prozesses wird gelegentlich mit religiöser Erleuchtung gleichgesetzt. Inwieweit das zutrifft, hängt davon ab, was unter "Erleuchtung" verstanden wird. Oft sind religiöse Erleuchtungserfahrungen lediglich ein Ergriffensein (> Bewusstseinszustände, veränderte > Ekstase > Größenfantasie) von einem einzigen archetypischen Muster (> Archetyp) und führen eher zu einer > Inflation und Vereinseitigung als zur Individuation. Dagegen ist Individuation ein fortwährender Prozess (> Individuationsprozess), der die schöpferische Kooperation zwischen Ich-Bewusstsein und > Selbst zum Ziel hat, die den wechselnden Anforderungen des Lebensflusses standzuhalten vermag.
Jungs persönliches Leben zeigt, dass er sich bis zu seinem Tod intensiv der Arbeit an der Individuation seiner Persönlichkeit gewidmet hat. Die Zeugnisse davon durchziehen sein gesamtes Werk (vgl. Jaffé, 1962). Aus seiner Erfahrung, dass selbst in tiefen Krisen (> Krise) unbewusste schöpferische Kräfte am Werk sind, schöpft er seine Zuversicht bezüglich der Möglichkeit, aus einem, dem Bewusstsein chaotisch erscheinenden, Gewirr (> Chaos) natürlicher Strebungen das Bild eines, die Gegensätze umfassenden, Kosmos (> Einheitswirklichkeit > Mandala > Unus mundus) erscheinen zu lassen.
Literatur: Franz, M. -L. v. (1968): Der Individuationsprozess; Jacobi, J. (1965): Der Weg zur Individuation; Meier, C. A. (1986): Persönlichkeit.
Autor: G. Sauer