Individualität
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Definition: Der Begriff Individualität (lat. individuum: das Ungeteilte, das Einzelwesen, das nicht mehr weiter geteilt werden kann, ohne seine Ganzheit zu verlieren) wurde schon früh in Biologie, Philosophie, Psychologie, Soziologie, Theologie verwendet, um ein Besonderes und Ungeteiltes oder nicht mehr weiter Teilbares zu kennzeichnen, das sich durch Vereinzelung aus einem Allgemeinen zum Konkret so Seienden, zum Besonderen hin entwickelt hat. Individualität meint das, was gegenüber dem Allgemeinen, etwa der biologischen Art oder Gattung konkret und einzigartig ist.
Information: In der Soziologie wird Individualität in Abgrenzung, Gegensatz, Spannung aber auch in Bedingtheit zur Gruppe gesehen; in der Theologie steht das Verhältnis zwischen dem Einzelnen und Gott im Fokus, die Philosophie betont die Vernunft und Autonomie des Individuums. Wird der Mensch als Individuum aufgefasst, so ist damit gemeint, dass er ein autonomes, über Vernunft verfügendes Wesen oder Ich ist und über sich selbst verfügen können soll. Daraus entwickelt sich die Idee des Individualismus im Gegensatz zum Kollektivismus (> Bewusstsein, kollektives > Kollektiv > Kollektivpsyche), d. h. Individualität und das Einzelwesen haben Priorität vor der Gemeinschaft, dem Kollektiv, der > Gesellschaft. Politisch resultiert aus dieser Sicht der Liberalismus, die Konstituierung der unveräußerlichen Menschenrechte und die zunehmende Demokratisierung der Gesellschaften mit der Vorstellung, dass nur dann eine echte Gruppe oder Gemeinschaft möglich ist, wenn jedes Individuum sich voll entfalten kann. Ethisch, wirtschafts- und gesellschaftspolitisch zeigen sich als Schattenaspekte u. a. egoistische, sozialdarwinistische und anarchistische Tendenzen des Individualität.
C. G. Jung nimmt eine a priori existierende psychologische Individualität an, die zunächst unbewusst ist (vgl. Jung, GW 6, § 829). Für ihn ist das Individuum der natürliche und einzige Lebensträger. Um die Individualität bewusst zu machen, ist ein Differenzierungs- und Integrationsprozess (> Differenzierung > Integration), die > Individuation, notwendig. Die Frage nach der Entwicklung des Individuums und dem Prozess der Individuation in Beziehung zu und aus einem unbewussten kollektiven Urgrund, und gleichfalls aus den persönlichen Bindungen und den Bindungen des Kollektivs, beschäftigt Jung in seinem gesamten Werk. Für ihn ist die Entwicklung der Individualität die Basis auch aller sozialen Organisation: "Die Individuation ist ein Eins werden mit sich selbst und zugleich mit der Menschheit, die man ja auch ist. Ist der Bestand des einzelnen so gesichert, dann besteht auch die Gewähr dafür, dass die organisierte Anhäufung der einzelnen im Staate, auch in dem mit größerer Autorität ausgestatteten Staate, wohlverstanden, nicht mehr zur Bildung einer anonymen Masse, sondern zu einer bewussten Gemeinschaft wird. Unerlässliche Voraussetzung hierzu ist aber die bewusste und freie Wahl und die individuelle Entscheidung. Ohne diese Freiheit und Selbstständigkeit des einzelnen gibt es keine wahre Gemeinschaft, und - wie wir sagen müssen - ohne solche Gemeinschaft kann auch das in sich begründete und selbstständige Individuum auf die Dauer nicht gedeihen.“ (Jung, GW 16, § 227)
Schon seit seinen frühen Äußerungen zum Individuum und zum > Individuationsprozess ist Jung immer wieder bemüht, die Entwicklung zum Individuum und zur Individualität gegen den Vorwurf des Egoismus, der Anarchie abzugrenzen und zu betonen, dass der individuelle Weg nicht im Gegensatz zu einer verantwortlichen, gesellschaftlichen Haltung und Einstellung des Individuums sein kann, sondern dass gerade darin ein verantwortlicher Weg liegt, weil zwischen dem Einzelnen und der > Gesellschaft ein "lebensnotwendiger Zusammenhang" besteht.
Oft wird die Individualität mit Individualismus verwechselt. "Dieses Missverständnis ist ganz allgemein, indem man ungenügend zwischen Individualismus und Individuation unterscheidet. Individualismus ist ein absichtliches Hervorheben und Betonen der vermeintlichen Eigenart im Gegensatz zu kollektiven Rücksichten und Verpflichtungen. Individuation aber bedeutet geradezu eine bessere und völligere Erfüllung der kollektiven Bestimmungen des Menschen, indem eine genügende Berücksichtigung der Eigenart des Individuums eine bessere soziale Leistung erhoffen lässt, als wem die Eigenart vernachlässigt oder gar unterdrückt wird. Die Eigenartigkeit des Individuums ist nämlich keineswegs als eine Fremdartigkeit seiner Substanz oder seiner Komponenten zu verstehen, sondern viel eher als ein eigenartiges Mischungsverhältnis oder als gradueller Differenzierungsunterschied von Funktionen und Fähigkeiten, die an und für sich universal sind. Jedes menschliche Gesicht hat eine Nase, zwei Augen usw., aber diese universalen Faktoren sind variabel, und es ist diese Variabilität, weiche individuelle Eigenart ermöglicht. Individuation kann daher nur einen psychologischen Entwicklungsprozess bedeuten, der die gegebenen individuellen Bestimmungen erfüllt, mit anderen Worten, den Menschen zu dem bestimmten Einzelwesen macht, das er nun einmal ist. Damit wird er nicht "selbstisch" im landläufigen Sinne, sondern er erfüllt bloß seine Eigenart, was, wie gesagt, von Egoismus oder Individualismus himmelweit verschieden ist." (GW 7, § 266 f.)
Literatur:
Autor: A. Müller