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Aktuelle Version vom 20. Juli 2024, 12:02 Uhr
Keyword: Individuationsprozess
Links: > Individualität > Individuation > Ganzheit > Ganzwerdung > Mandala > Selbst
Definition: Der Individuationsprozess (> Individualität > Individuation) bezeichnet den archetypisch verankerten und jeweils individuell und konkret zu gestaltenden lebenslangen Prozess der > Differenzierung und > Integration der Persönlichkeit in Abhängigkeit, Spannung und Auseinandersetzung mit dem kollektiven Unbewussten und dem > Selbst wie mit der konkreten Mit- und Umwelt.
Information: Die > Analytische Psychologie teilt die Auffassung der Tiefenpsychologie und der modernen > Entwicklungspsychologie von der Entwicklung des Menschen, ergänzt und erweitert diese theoretischen Modelle aber wesentlich. Die erste Erweiterung bezieht sich auf den Begriff des > Selbst, der die bewusst-unbewusste > Ganzheit und selbstregulierende (> Selbstregulation) Dynamik des Organismus bezeichnet. die Analytische Psychologie ist bemüht, die Entwicklung der Persönlichkeit nicht nur aus einem isolierten Aspekt heraus zu verstehen (z. B. dem der > Sexualität, des Machtstrebens, der Bewusstseinsentwicklung oder der Objekt-Beziehung, sondern den ganzen Menschen in seinen unterschiedlichen Phasen und Bedürfnissen zu sehen. Die zweite Erweiterung ist die Darstellung des Individuationsprozesses unter archetypischer Perspektive (> Archetyp), d. h. Individuation ist einerseits ein einmaliger individueller Prozesse, andererseits ist dieser Prozess Ausdruck von archetypischen, existenziellen Grundthemen der Menschheit, die sich in dem jeweiligen Menschen konstellieren und die er in schöpferischer Weise bewältigen muss. Die dritte Erweiterung liegt in den besonderen Erfahrungsdimensionen der Individuation in der zweiten Lebenshälfte, ein Aspekt, der in unserer Kultur und Gesellschaft lange Zeit stark vernachlässigt worden ist. Gerade diese Phase steht im Mittelpunkt des Interesses von C. G. Jung.
C. G. Jung hat den Lebensprozess mit dem Lauf der Sonne verglichen und in vier große Phasen gegliedert: Kindheit/Jugend (Morgen) - Frühes Erwachsenenalter (Vormittag) - Mittleres Altern (Nachmittag) - Späte Reife (Abend). Die ersten beiden Phasen dienen nach Jungs Vorstellung vor allem dem "Naturzweck", während die beiden letzten Phasen dem "Kulturzweck" dienen könnten. "Der Nachmittag des menschlichen Lebens ist ebenso sinnreich wie der Vormittag; nur sind sein Sinn und seine Absicht ganz andere. Der Mensch hat zweierlei Zwecke: der erste ist der Natur-Zweck, die Erzeugung von Nachkommenschaft und alle Geschäfte des Brutschutzes, wozu Gelderwerb und soziale Stellung gehören. Wenn dieser Zweck erschöpft ist, beginnt eine andere Phase: der Kulturzweck." (Jung, GW 7, § 114) Diese Kulturzweckphase wird in der "Mittagszeit" des Lebens oft eingeleitet durch eine "Krise der Lebensmitte" (> Lebenswende) und eine Umwertung der Werte (> Enantiodromie)." Es ist eine Art zweiter Pubertätszeit oder zweiter Sturm- und Drangperiode, nicht selten begleitet von allen Stürmen der Leidenschaft ("gefährliches Alter“). Aber die Probleme, die sich in diesem Alter stellen, sind nicht mehr nach den alten Rezepten zu lösen - der Zeiger dieser Uhr lässt sich nicht zurückdrehen. Was die Jugend außen fand und finden musste, soll der Mensch des Nachmittags innen finden." (Jung, GW 7, §114) Mit diesem Innen ist die Auseinandersetzung mit dem Unbewussten und die > Differenzierung und > Integration der bisher undifferenziert gebliebenen Aspekte des Selbst gemeint. Bei einem eher introvertierten (> Introversion) Menschen kann es durchaus sein, dass er einen großen Teil seiner weiteren Lebensorientierung in mehr extravertierten Aspekten (> Extraversion) seiner Persönlichkeit findet, ein "Denktyp" entdeckt die Sinnlichkeit und die Emotionen (> Fühlen/Fühlfunktion), der Realist (> Empfinden/Empfindungsfunktion) entdeckt die Welt des Irrationalen usw. Allerdings bedeutet diese Umwertung der Werte nicht, dass man nun alles, was einem früher wichtig und bedeutsam war, über Bord wirft und das Gegenteil von seinem bisherigen Lebensstil lebt, sondern es handelt sich, was grundsätzlich für alle Integrationsversuche von polaren Ereignissen gilt, "um eine Erhaltung der früheren Werte zusammen mit einer Anerkennung ihres Gegenteils." (Jung, GW 7, § 116)
Literatur: Jacobi, J. (1965): Der Weg zur Individuation; Meier, C. A. (1986): Persönlichkeit; Müller, L. (2001): Lebe dein Bestes.
Autor: L. Müller