Urbeziehung

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Keyword: Urbeziehung

Links: > Beziehung > Entwicklungspsychologie > Mutterarchetyp > Ich-Selbst-Achse > Ich, integrales > Not-Ich > Säuglingsforschung: Entwicklung > Säuglingsforschung: Ergebnisse> Symbiose > Urschuld

Definition: Urbeziehung ist ein von E. Neumann eingeführter Begriff für die erste, ungefähr ein Jahr dauernde nachgeburtliche Frühzeit des Säuglings. Neumann bezieht sich dabei auf den Biologen A. Portmann, der feststellt, dass der Mensch nicht nur eine intrauterine, sondern auch eine extrauterine Embryonalzeit von etwa einem Jahr durchlaufen muss. Im Vergleich mit allen anderen höheren Säugetieren erreicht das menschliche Kind den entsprechenden artgemäßen Reifungsgrad, den diese bei der Geburt zeigen, erst nach Ablauf des ersten Lebensjahres. Es dauert mindestens 1 Jahr, bis das Kind den artgemäßen aufrechten Gang und die spezifisch menschliche Kommunikationsweise (Wortsprache) erlernt. Den biopsychischen Sinn dieser Beobachtung sieht Portmann darin, dass der Säugling, statt weiterhin im Dunkeln des Uterus zu reifen, schon einen außerordentlich frühen Kontakt mit dem Reichtum der Welt erfährt, was für den Menschen, als soziales und mit Bewusstheit begabtes Wesen, von entscheidender Bedeutung ist.

Information: Dem Menschen artgemäß ist also eine "zweizeitige Embyonalzeit", wie es Neumann formuliert. Dies bedeutet, dass nach der Geburt der Säugling zwar in seinem "Körperselbst" in Erscheinung tritt, trotzdem aber teilweise, psychisch, in der Mutter enthalten bleibt. Kind und Mutter sind, ähnlich wie in der uterinen Embryonalzeit noch so zusammengefügt, dass sie miteinander eins sind, eine Dual-Union bilden. Das individuelle Selbst des Kindes ist erst nach dieser Zeit voll etabliert. Neumann spricht deswegen auch von "Einheitswirklichkeit".

Nach Neumann ist "die früheste Urbeziehung zur Mutter deswegen so einzigartig, weil in ihr - und fast nur in ihr - der Gegensatz zwischen automorpher Selbstentwicklung und Du-Beziehung, der das ganze menschliche Leben mit Spannung erfüllt, noch nicht nicht oder nur ansatzweise existiert." (Neumann 1963, S. 15). Deshalb wird diese Phase oft als paradiesisch bezeichnet. Selbstverständlich ist diese so überaus abhängige Phase der kindlichen Entwicklung sehr störungsanfällig und weitgehend von der Qualität des Zusammenspiels von Mutter und Kind abhängig. Das Erleben des Säuglings kann alle Abstufungen zwischen den Polen von Paradies und Hölle beinhalten (> Not-Ich > Urschuld), kann auch von einem Pol zum andern schwanken. Wie immer sich die Urbeziehung gestaltet, sie wird für die weitere psychosomatische Entwicklung von entscheidendem Einfluss sein.

Die moderne Säuglingsforschung hat die Vorstellungen Neumanns bzgl. der Einheit von Mutter und Kind insoweit relativiert, als sie von einem wesentlich kompetenteren Säugling ausgeht. Zugleich scheinen die von Neumann beschriebenen Vorgänge bzgl. der Ich-Entwicklung auch neuen Befunden zu entsprechen.

Literatur: Jacoby, M. (1980): Sehnsucht nach dem Paradies; Jacoby, M. (1998): Grundformen seelischer Austauschprozesse; Neumann, E. (1963): Das Kind.

Autor: M. Jacoby