Chaostheorie

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Keyword: Chaostheorie

Links: > Chaos > Ganzheit > Komplexität > Kreativität > Krise > Schöpferisches > Selbst > Selbstregulation > Wandlung

Definition: Die Chaostheorie wurde ab den 80er-Jahren des 20. Jhs. ein Sammelbegriff für die Erforschung von offenen, komplexen Systemen. Durch äußere Einwirkungen können diese chaotisch werden und danach wieder in eine neue Ordnung übergehen (> Selbstregulation). Die Chaostheorie wird, nach der Relativitäts- und Quantentheorie, als die dritte Revolution in der Naturwissenschaft des 20. Jhs. betrachtet. In Umkehrung der Tendenz zur Spezialisierung steht sie für Komplexität und Ganzheit, ihre Erkenntnisobjekte sind anschauliche Vorgänge in der Natur wie z. B. das Wetter, Wolkenstrukturen, Bäume oder Turbulenzen. Unter Chaos versteht man nicht dessen umgangssprachliche Bedeutung, nämlich zufällige Unordnung (Stochastik), sondern das so genannte deterministische Chaos. Die Ereignisse in solchen Systemen sind nicht vorhersagbar, lassen sich aber mit nichtlinearen Gleichungen beschreiben und durch grafische Darstellungen als Ordnungsmuster erkennen. Wichtigstes Prinzip ist die sensitive Abhängigkeit von den Anfangsbedingungen, dass kleinste Einwirkungen durch sich wiederholende (iterative) Rückkopplungen (Rekursivität) große Ursachen hervorrufen können.

Information: Dieses „Schmetterlingsprinzip“ – der Flügelschlag eines Schmetterlings könnte einen Wirbelsturm auslösen – formulierte erstmals E. Lorenz anhand eines Wettermodells. Dessen Zustände ergaben aber bei einer grafischen Darstellung im Phasenraum ein geordnetes Muster, den Lorenz-Attraktor. Solche chaotischen Attraktoren (Attraktor=Bezeichnung für den Endzustand eines dynamischen Systems bei Ablaufen eines evolutionären Prozesses) werden, aufgrund ihrer gebrochen-zahligen Dimensionen, als fraktal bezeichnet. Fraktale werden oft, durch Wiederholung derselben Figur, in verschiedensten Maßstäben (Selbstähnlichkeit, Skaleninvarianz) gebildet wie z. B. das „Apfelmännchen der Mandelbrot-Menge“. Die Übergänge von Ordnung zu Chaos und umgekehrt lassen sich so als mathematisch definierbare Gestalt veranschaulichen.

Die Chaostheorie hat ein vielfältiges interdisziplinäres Forschungsfeld zwischen den Natur- und Humanwissenschaften eröffnet (Capra, 1996). Nach M. Eigen (Eigen, Winkler, 1985) ist die ganze Evolution ein selbst organisierter Prozess (Synergetik). Neurophysiologische Untersuchungen sehen im selbst erzeugten Chaos des Gehirns ein kreatives Funktionsprinzip. Psychischen Prozessen wird eine Fraktal-Struktur hypostasiert, wo einzelne Affekt-Logiken (Ciompi, 1997) oder Archetypen (> Archetyp) und Komplexen (> Komplex) den seltsamen Attraktoren entsprechen. Das Prinzip der Selbstähnlichkeit bestätigt die Verflechtung von Makrokosmos und Mikrokosmos. C. G. Jungs Konzeption des > Selbst wird als selbstorganisierendes System betrachtet, wo krisenhafte Wandlungsprozesse (> Krise > Wandlung) dem psychischen Chaos Sinn und Struktur geben (Schroer, 2000; Wieland-Burston, 1989). Die transzendente Funktion (> Funktion, transzendente) mit den gegensatzvereinigenden Symbolen und Mandalas (> Mandala) als Ordnungsstrukturen sind Ausdruck der potenziellen Ordnung im Chaos. Die von Jung anhand der alchemistischen Metaphorik beschriebenen schöpferischen Prozesse im seelischen > Chaos werden so weiter vertieft. Aufgrund der Komplexität seelischer Prozesse haben chaostheoretische Konzeptionen in der Psychologie nur metaphorische Bedeutung. Sie unterstreichen aber den nicht-linearen, rekursiven Charakter des menschlichen Lebens und sind nicht zuletzt auch – inspiriert z. B. durch Goethes naturwissenschaftliche Studien (vgl. Gleick, 1988, S. 235ff. und 277ff.) – aus intuitiv-imaginativen, ganzheitlichen Anschauungen hervorgegangen. Hier schließt sich der Kreis zur Imagination in der > Alchemie, die sich die Natur zum Vorbild nimmt.

Literatur: Briggs, J., Peat, D. (1990): Die Entdeckung des Chaos; Gleick, J. (1988): Chaos – die Ordnung des Universums.; Wieland-Burston, J. (1989): Chaotische Gefühle.

Autor: M. Krapp