Komplex
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Definition: Als Komplex (lat. complexus: Umfassung, Umschließung, Umschlingung, Zusammenfassung) bezeichnet die > Analytische Psychologie mehr oder weniger unbewusste psychische Inhalte, die durch die gleiche > Emotion und durch einen gemeinsamen Bedeutungskern (> Archetyp) verbunden sind und die in gewissen Grenzen, stellvertretend füreinander stehen können. Jedes affektgeladene Ereignis kann zu einem Komplex werden. Werden Komplexe auf der Ebene der Emotion oder auf der Bedeutungsebene angesprochen - wird der Komplex berührt -, dann wird das Gesamte dieser unbewussten Verknüpfungen aktiviert (> Konstellation), samt der dazugehörenden Emotionen, den Bezügen zur Lebensgeschichte und den daraus resultierenden Erlebens- und Verhaltensweisen. Dieser Vorgang läuft, solange der Komplex unbewusst ist, autonom und stereotyp ab. Je stärker die Emotionen und das Assoziationsfeld sind, desto stärker ist der Komplex, desto mehr werden andere Kräfte an den Rand gedrängt oder verdrängt. Komplexe werden auch körperlich erlebt, da das Wesentliche am Komplex die Emotion ist und Emotionen von somatischen Reaktionen begleitet sind. Werden die konstellierten Komplexe nicht bewusst gemacht, behalten sie ihre relative > Autonomie, können zu einer > Identifizierung mit ihnen führen oder werden projiziert (> Projektion). Gelingt es, den Komplex zu integrieren (> Integration), d. h. mit dem Komplex in bewussten Kontakt zu treten, die Bilder und Fantasien, die mit ihm verbunden sind, zu erleben und zu gestalten, kann die Energie, die in einem Komplex gebunden ist, zu einer Energie werden, die den ganzen Menschen belebt.
Information: C. G. Jung hat den Begriff des Komplexes im Zusammenhang mit dem > Assoziationsexperiment entwickelt. Erstmals in diesem Kontext wird er 1904 im Aufsatz "Experimentelle Untersuchungen über Assoziationen Gesunder" verwendet, den Jung mit F. Riklin veröffentlicht. (vgl. Jung, GW 3) Der Terminus erscheint aber auch schon in seiner Dissertation von 1902 ohne nähere Bestimmung. (vgl. Jung, GW 1) Bei Assoziationsversuchen haben Jung und Riklin herausgefunden, dass Begriffe, auf die nicht glatt assoziiert (> Assoziation) werden kann, auf persönliche affektbetonte Erfahrungen und Schwierigkeiten hinweisen, die sie dann Komplexe nennen. In der Folge postulieren sie, dass der Hintergrund des Bewusstseins aus solchen Komplexen bestehe und alle psychogenen Neurosen (> Neurose) einen Komplex enthielten, der mit außerordentlich starken Gefühlstönen ausgestattet sei. Weiter stellt Jung dann 1907 fest, dass jedes affektgeladene Ereignis zu einem Komplex wird und bereits bestehende Komplexe verstärkt. Hier gibt es enge Zusammenhänge zur > Verhaltenstherapie und zur modernen > Hirnforschung.
Komplexe können mit bedrohlichen, konflikthaften (> Konflikt > Krise) oder traumatischen Erfahrungen (> Trauma/Traumatisierung), aber auch mit positiven Ereignissen (z. B. > Freude, Erfolgserlebnisse > Liebe) verbunden sein (> Komplexdiagnose) und können deshalb das Erleben und Verhalten hemmen oder fördern. Sie weisen auf zentrale Themen, Motivationen und Bedürfnisse (> Motivation > Bedürfnis) hin. Sie werden von Jung deshalb auch als Brenn - oder Knotenpunkte des seelischen Lebens bezeichnet. 1934 fasst Jung die Komplexlehre zusammen (vgl. GW 8). Er sieht Komplex auch im nicht konstellierten Zustand als Wirkkräfte, die die Interessen eines Menschen steuern und bezeichnet sie als Grundlage der Symbolbildung. Diese Idee entwickelt er in der Folge immer weiter unter dem Stichwort der Fantasietätigkeit der Komplexe. Dieser Aspekt ist im therapeutischen Zusammenhang als Möglichkeit der kreativen Entwicklung durch die > Integration der Komplexe von wichtiger Bedeutung und hat viele Methoden und Techniken in der Analytischen Psychologie (> Analytische Psychologie) beeinflusst.
Als Kern der Komplexe werden von Jung archetpische Muster > Archetyp vermutet. In Anbetracht der Idee Jungs, der Komplex werde hervorgerufen durch den schmerzhaften Zusammenstoß des Individuums mit einer "Anpassungsforderung" (> Anpassung), lässt sich das Konzept des Komplexes heute dynamischer sehen: als die Verdichtung von generalisierten Beziehungserfahrungen mit Menschen und der Welt, verbunden durch vergleichbare Information und Emotion. Schwierige Beziehungsepisoden, wobei ein "Kindanteil" und ein "Erwachsenenanteil" auszumachen ist, werden durch das Episodengedächtnis als Repräsentationen (> Repräsentanz > Repräsentation gespeichert. Meistens besteht eine > Identifikation mit dem "Kindanteil", der "Erwachsenenanteil" (Vater, Mutter, Geschwister) wird projiziert (> Projektion), wobei man unbewusst aber damit identifiziert ist. Das Erkennen dieser Identifikationen in der Beziehung zu sich selber und im alltäglichen Verhalten bewirkt die Veränderung der Komplexe. Diese komplexhaften Beziehungsepisoden, die während des ganzen Lebens entstehen können, wobei die frühe Kindheit natürlich eine besonders vulnerable Phase darstellt, werden leicht auf neue Beziehungen übertragen (> Projektion. Das Konzept ist deshalb auch wesentlich für das Verständnis von Übertragung und Gegenübertragung (> Übertragung/Gegenübertragung). Das Konzept der Komplexe hat nahe Beziehungen zu anderen Modellen, z. B. zu K. Grawes Schematheorie (Grawe, 1994, vgl. Heisig, 1999, Heydwolff, 1995), zu den "representations interaction generalized" (RIGs) von D. Stern (Stern, 1985), den Konzepten der > Schematherapie und den COEX-Systemen (Systems of condensed experience) von S. Grof (vgl. Grof, 1978; > Transpersonale Psychologie > Holotrophes Atmen). Bei den COEX-Systemen handelt es sich um spezifische Konstellationen von Erinnerungen aus verdichteten Erfahrungen und Fantasien, die um ein ähnliches Grundthema geordnet und mit einer starken Emotion der gleichen Qualität besetzt sind.
Solche Komplex-Konstellationen werden von neueren neurowissenschaftlichen Forschungen bestätigt. Jede Komponente eines episodischen Gegenwartserlebens ist geeignet, Erinnerungen an früheres Erleben wachzurufen, das dem gegenwärtigen ähnelt, besonders dann, wenn es sich um emotionale Erfahrungen handelt. Dem Assoziationsvorgang entspricht auf neurophysiologischer Ebene die Reaktivierung des früher Erlebten entlang synaptischer Verschaltungen, die durch wiederholte ähnliche Erfahrungen verstärkt worden sind, und die mit jeder Reaktivierung erneut verstärkt verstärkt werden.
Literatur: Dieckmann, H. (1991): Komplexe; Heisig, D. (1999): Wandlungsprozesse durch die therapeutische Beziehung; Kast, V. (1980): Das Assoziationsexperiment in der therapeutischen Praxis; Kast, V. (1990): Die Dynamik der Symbole; Kast, V. (1994): Vater-Töchter Mutter-Söhne; Meier, C. A. (1969): Die Empirie des Unbewussten; Meier, I. (2018) Komplexe und Dissoziationen
Autor: V. Kast