Funktion, inferiore

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Keyword: Funktion, inferiore

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Definition: Minderwertige oder inferiore (lat: untergeordnet, auch minderwertig, gering) Funktion ist eine häufig gebrauchte Bezeichnung für die, aus dem Unbewussten wirkende, Orientierungsfunktion (> Orientierungsfunktionen > Typologie), die den Schattenaspekt der Hauptfunktion eines Menschen bildet. Während die Hauptfunktion der bewussten Orientierung in der Welt dient (insbesondere in der ersten Lebenshälfte), vermittelt das Leiden an der minderwertigen Funktion den Kontakt zum Unbewussten und stellt so einen zentralen Motor der > Individuation dar. Die vier Funktionstypen Fühlen und Denken (> Fühlen/Fühlfunktion > Denken/Denkfunktion), Empfinden und Intuieren (> Empfinden/Empfindungsfunktion > Intuition/Intuitive Funktion) bilden zwei Paare, die in Kreuzform dargestellt werden können. Jeder Mensch verfügt jeweils über alle vier Funktionen, doch eine von ihnen ist inferior, liegt im Kreuzschema der Hauptfunktion gegenüber. Sie wirkt aus dem Unbewussten heraus (Komplementaritätsregel, vgl. Meier, 1975).

Information: Fühlen ist also die inferiore Funktion des Denk-Typs und Denken die des Fühl-Typs, ebenso verhält es sich bei Intuition und Empfindung. Das oft schmerzliche Bewusstwerden der inferioren Funktion geschieht in der Regel durch die Krise der > Lebenswende, wenn die Hauptfunktion gleichsam anfängt, zu rattern und Öl zu verlieren wie ein altes Auto (vgl. v. Franz, Hillman, 1980; Frick, 1996a). Die damit zutage tretende Wunde der inferioren Funktion bildet eine Brücke zum Unbewussten > Unbewusstes). In der Therapeut-Patienten-Beziehung kann es zu leidvollen, spannungsreichen Anforderungssituation kommen, wenn der jeweils andere Interaktionspartner die verlangte psychische Funktion aus typologischen Gründen nicht zur Verfügung hat. Das versöhnende Symbol des Inneren Heilers (> Heilen/Heilung > Heiler, verwundeter) konstelliert sich, wenn beide ihre unbewussten Aspekte spüren.

C. G. Jung spricht metaphorisch vom „niederen Ursprung des Erlösers“ (vgl. Jung, GW 12, § 33): Nicht unsere bewussten Hauptfunktionen (ob Denken, Fühlen, Empfinden oder Intuieren), sondern unsere „inferiore Funktion“ bringt die Heilung. Sie trägt nämlich, was wir am meisten verachten und von uns weisen. Deshalb nennt Groesbeck die minderwertige Funktion in Anlehnung an die in Jesaja 53 auftretende Gestalt des Gottesknechts den „inneren leidenden Gottesknecht“, von dem die Heilung der Krankheit ausgeht (vgl. Groesbeck, 1978). In der klinischen Erfahrung und auch Lebenserfahrung drängt sich die minderwertige Funktion immer wieder als anarchisch, störend, beschämend auf. Sie konstelliert sich inter-personell in den bereits genannten Anforderungssituationen, z. B. wenn ein Fühl-Typ einen Denker auf seine Gefühle anspricht. Dies kann in therapeutischen Situationen zu Blockaden und projektiven Verstrickungen führen. Im günstigsten Fall kann jedoch das Leiden an der minderwertigen Funktion durch Nutzung der Komplementaritätsregel zur Diagnose der Hauptfunktion verwendet werden. Bei gleicher Typologie von Therapeut und Patient hängt viel davon ab, ob der Therapeut mit der eigenen inferioren Funktion (d. h., mit der eigenen typologischen Wunde) vertraut ist, sodass keine blockierende gemeinsame Schattendynamik entsteht (vgl. Wilke, 1980). Kennt der Therapeut die eigene minderwertige Funktion, wird es ihm leichter gelingen, „typologisch zu rotieren“, d. h. den Patienten zunächst über dessen Hauptfunktion anzusprechen, auch wenn dies der eigenen typologischen Ausstattung zuwiderläuft. Wenn gelegentlich in psychotherapeutischen Kreisen der „Bauch“ idealisiert, Denken auf > Abwehr von Emotionalität reduziert wird, ist das ein Missverständnis von Jungs Auffassung des Fühlens als rationaler Funktion oder (in anderer Terminologie) als einer Wertprüfung (vgl. Ticho, 1972).

Literatur:

Autor: E. Frick