Ganzwerdung
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Definition: Die Ganzwerdung der Person mit ihren bewussten Lebensmustern sowie den unbewussten Beweggründen der Seele ist das Ziel des Individuationsprozesses (> Individuationsprozess). Es geht in diesem fortwährenden Prozess darum, möglichst alle Aspekte der Persönlichkeit bewusst zu machen, anzunehmen bzw. zu entwickeln. Mit der anzustrebenden Ganzwerdung ist keine ideale Vollkommenheit gemeint, sondern eine Vollständigkeit, ein oftmals mühsamer Prozess der Auseinandersetzung mit den eigenen Konflikten (> Konflikt), Schwierigkeiten, Widersprüchen und der > Integration von abgewehrten unbewussten psychischen Inhalten (> Schatten). “Es gibt kein Licht ohne Schatten und keine seelische Ganzheit ohne Unvollkommenheit. Das Leben bedarf zu seiner Vollendung nicht der Vollkommenheit, sondern der Vollständigkeit. Dazu gehört der „ Pfahl im Fleisch „, das Erleiden der Mangelhaftigkeit, ohne welche es kein Vorwärts und kein Aufwärts gibt.“ (Jung, GW 12, § 208)
Wesentlich für die Ganzwerdung ist, die verschiedenen Persönlichkeitsanteile zu verbinden und die krank machende Spaltung der Gegensätze (> Gegensatz) zu überbrücken und möglichst zu versöhnen. “Die Ganzheit und Erfüllung des Lebens erfordert ein Gleichgewicht von Leid und Freude. Weil das Leiden aber positiv unangenehm ist, so zieht man es natürlicherweise vor, nie zu ermessen, zu wie viel Angst und Sorge der Mensch geschaffen ist. Darum spricht man stets begütigender weise von Verbesserung und größtmöglichen Glück, nicht bedenkend, dass auch das Glück vergiftet ist, wenn sich das Maß des Leides nicht erfüllt hat. So oft verbirgt sich hinter der Neurose all das natürliche und notwendige Leid, das man zu ertragen nicht gewillt ist.“ (Jung, GW 16, § 185).
Information: Welche große Bedeutung die Ganzwerdung für C. G. Jung selber hat, bezeugt er am Anfang seiner Autobiografie mit folgenden Worten: „Mein Leben ist die Geschichte einer Selbstverwirklichung des Unbewussten. Alles was im Unbewussten liegt, will Ereignis werden, und auch die Persönlichkeit will sich aus ihren unbewussten Bedingungen entfalten und sich als Ganzheit erleben [...] Im Grunde genommen sind mir nur die Ereignisse meines Lebens erzählenswert, bei denen die unvergängliche Welt in die vergängliche einbrach. Darum spreche ich hauptsächlich von den inneren Erlebnissen. Zu ihnen gehören meine Träume und Imaginationen. Sie bilden zugleich den Urstoff meiner wissenschaftlichen Arbeit“ (Jung, Jaffé, 1962, S. 10f).
Die Ganzwerdung wird gefördert durch die schöpferische Arbeit mit dem Unbewussten (> Unbewusstes) und insbesondere durch die transzendente Funktion (> Funktion, transzendente), die das Ich-Bewusstsein (> Ich/Ich-Bewusstsein mit der Ganzheit des > Selbst verbindet. Sie drückt sich in ganzheitlichen und gegensatzvereinigenden Symbolen (> Quaternio > Selbst > Mandala) oder durch Gestalten aus (> Kind, Göttliches > Mana-Persönlichkeit > Weise, Alte > Weiser, Alter), die in uns die Vorstellung einer ganzheitlichen Existenz wecken (wie z. B. Christus oder Buddha). Zur Ganzwerdung gehört ferner, dass ein Mensch mit allen vier typologischen > Orientierungsfunktionen zu leben lernt und dabei insbesondere die vernachlässigten Funktionen differenziert (> Differenzierung) und integriert (> Integration).
Die Dimension der Ganzwerdung ist in der Analytischen und tiefenpsychologisch orientierten Religionsphilosophie und -psychologie von U. Mann (1973) von grundlegender Bedeutung, indem er die Religion „als ganzheitliche Beziehung zum Ganzen“ definiert. Damit greift Mann den biblischen Begriff der Ganzwerdung auf, denn im Alten Testament bedeutet der Begriff „tam“ und „tamim“: ganz und vollständig. Martin Luther übersetzt diese Ur-Worte des Glaubens meistens mit fromm, und die katholischen Übersetzungen sprechen von Rechtschaffenheit. Im Sinne der Definition von Mann geht es jedoch um ganzheitliche Beziehungen des Menschen zu sich selber, zu den Mitmenschen, der Welt und darüber hinaus zur geistigen Welt, zu Gott und zu einer Göttin (> Gottesbild).
Literatur: Hark, H. (1988): Lexikon Jungscher Grundbegriffe; Jung, C. G., Jaffé, A. (1962): Erinnerungen, Träume, Gedanken von C. G. Jung; Mann, U. (1973): Einführung in die Religionspsychologie.
Autor: H. Hark