Kindarchetyp

Aus aip-lexikon.com
Version vom 20. Juli 2024, 10:39 Uhr von de>Anlumue (Textersetzung - „[..]“ durch „[...]“)
(Unterschied) ← Nächstältere Version | Aktuelle Version (Unterschied) | Nächstjüngere Version → (Unterschied)
Zur Navigation springenZur Suche springen

Keyword: Kindarchetyp

Links: > Heldenmythos > Kind, Göttliches > Kindheit/Kindheitsphasen > Selbst

Definition: Angesichts der überwältigenden Kraft und energetisierenden Wirkung des Kindmotivs - Kinderbilder bewegen jeden Menschen, der sie anschaut, sie mobilisieren Energie, Zuneigung und Opferbereitschaft - geht die > Analytische Psychologie von einem Kindarchetypus (> Archetyp) als Grundlage des allgemein menschlichen lebendigen Bezugs zum Kind aus. Im biologischen Bereich (> Biologie) gehört das "Kindchenschema" (> Instinkt) bei Mensch und Tier in diesen Zusammenhang.

Information: C. G. Jung hat sich in seiner Arbeit „Zur Psychologie des Kindarchetypus“ (vgl. GW 9/1) grundlegend mit dieser Thematik befasst. Als archetypisches Motiv und > Symbol weist das Kind über sich, über das konkrete Kind, konkrete Kindheitsgeschichte und Erinnerung hinaus in die Kindheit der individuellen und kollektiven Seele (> Kollektivpsyche) vor der Entwicklung eines Ichs und Bewusstseins (> Ich/Ich-Bewusstsein > Bewusstsein). In jedem Kind ist "das vorbewusste und das nachbewusste Wesen des Menschen symbolisiert. Sein vorbewusstes Wesen ist der unbewusste Zustand der frühesten > Kindheit, das nachbewusste Wesen ist eine Antizipation per analogiam über den Tod hinaus. In dieser Vorstellung drückt sich das umfassende Wesen der seelischen > Ganzheit aus." (Jung, 9/1, § 299) Der Kindarchetyp kann also eine Urform der ursprünglichen, wie der sich entfaltenden und zukünftigen, > Ganzheit darstellen. Er konfrontiert mit der Vergangenheit, d. h. mit den ursprünglichen, ureigenen Möglichkeiten des Einzelnen wie des Menschlichen und deren Entwicklungsschicksal. Er kann eine gegenwärtige Bewusstseinssituation kompensieren (> Kompensation) und korrigieren und weist in die Zukunft, auf die zukünftige Persönlichkeit, die sich im > Individuationsprozess entwickeln kann: "Das Kind ist potenzielle Zukunft [...] daher bedeutet das Auftreten des Kindmotivs.. in der Regel eine Vorwegnahme künftiger Entwicklungen.“ Tritt es in inneren Bildern, Fantasien und Träumen (> Bild > Fantasie > Traum) auf, so bereitet sich "eine zukünftige Wandlung der Persönlichkeit" vor. (Jung, 9/1, § 278)

Das Kind, als grundlegende menschliche Erlebnismöglichkeit, kann das werdende Leben in seiner Gesamtheit symbolisieren, in all seinen Formen der Vollendung wie auch des Scheiterns, und es ist verbunden mit dem großen Bild letztlicher Unüberwindlichkeit. Das verleiht ihm besondere Würde, numinosen und faszinierenden Charakter (> Numinoses) und die Kraft zur Erlösung, wie sie in den göttlichen Kindern (> Kind, Göttliches > Heldenmythos) erscheinen. In Träumen ist das Kindmotiv deswegen in der Regel ein hoffnungsvoller und finaler (> Finalität) Aspekt, manchmal allerdings auch ein Bild noch bestehender unbewusster Infantilität. Dies gilt z. B. für kranke, verletzte, vernachlässigte oder sterbende Kinder im Traum, die ein Hinweis auf die notwendige Einstellungsänderung und damit auch ein Entwicklungsgesichtspunkt sind. Der Bedeutungsgehalt ist im Einzelfall an weiteren Persönlichkeitsmerkmalen zu entscheiden. Erscheint das Kind im Traummotiv als schon vollendetes kleines Wesen, stellt es zunächst eine Möglichkeit dar, die verwirklicht werden kann und verweist auf mögliche > Ganzheit. Das Kind "personifiziert Lebensmächte jenseits des beschränkten Bewusstseinsumfangs, Wege und Möglichkeiten, von denen das Bewusstsein in seiner Einseitigkeit nichts weiß und eine Ganzheit, welche die Tiefen der Natur einschließt." (Jung, 9/1, § 289). So symbolisiert das Kind als Archetypus und grundlegende menschliche Erlebnismöglichkeit das werdende Leben in seiner Gesamtheit. Es symbolisiert Entwicklung, die nur möglich ist durch Ablösung, durch Vereinzelung und Differenzierung aus dem Ursprung. Es symbolisiert Entwicklung in all ihren Formen, auch möglicher Vollendung und möglichem Scheitern, aber immer ist es mit dem großen Bild letztlicher Unüberwindlichkeit verbunden. Das verleiht ihm numinosen Charakter und die Kraft zur Erlösung, wie sie in den göttlichen Kindern erscheinen.

Die therapeutische Arbeit mit dem "inneren Kind" kann den Zugang zu oft längst verschlossenen Lebensräumen wieder eröffnen. Dieser Zugang ist erstmals von Eric Berne mit seinem Konzept der Ich-Zustände in der, von ihm entwickelten, > Transaktionsanalyse systematisch dargestellt worden und ist seitdem, in der praktischen therapeutischen Arbeit, in vielen unterschiedlichen Psychotherapieansätzen etabliert.

Literatur: Abrams, J. (Hrsg.) (1993): Die Befreiung des inneren Kindes; Asper, K. (1988): Von der Kindheit zum Kind in uns; Waiblinger, A. (1986): Große Mutter und göttliches Kind.

Autor: A. Seifert