Menschenbild

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Keyword: Menschenbild

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Definition: Unter einem Menschenbild (> Bild) versteht man eine von bestimmten Tatsachen oder wissenschaftlichen, philosophischen, religiösen Annahmen ausgehende Vorstellung vom Menschen. Die Entdeckung des kollektiven Unbewussten (> Unbewusstes, kollektives) durch C. G. Jung und die Entwicklung eines neues Weltbildes gehen Hand in Hand und führen zu einem neuen Menschenbild. Es unterscheidet sich von den früheren der archaischen Weltsicht (> Weltsicht, archaische) und des positivistisch-materialistischen Ansatzes (> Positivismus > Materie/Materialismus) vor allem in der Vorstellung vom menschlichen > Geist und dessen Befindlichkeit in der Welt. Bei archaischer Weltsicht gilt der Menschengeist als schwach, er bedarf der Erleuchtung durch einen ihm überlegenen Geist. Charakteristisch für die archaische Weltsicht ist, dass der, den Menschen erleuchtende und bei der Bewältigung des Lebens, unterstützende Geist außen und in einem jenseitigen Bereich der Wirklichkeit angesiedelt wird. Zwei Haupttypen von Hochreligion werden durch die Art und Weise, wie man sich das Zustandekommen der Welt vorstellt, unterschieden: Die zur abendländischen Kultur führende theistische > Religion mit der Vorstellung, ein persönlicher Gott (griech. theos) habe durch bloßes Aussprechen von Worten (> Logos-Prinzip) die Welt und den Menschen geschaffen. Der Mensch wird als von Gott völlig verschieden und in seinem ganzen Sein von der Gnade Gottes abhängig erlebt. (> Dualismus) Im gnostischen Religionstyp, der sich in Indien zu voller Blüte entfaltet, geht man von einer unpersönlichen göttlichen Fülle aus. Dieses > Pleroma fließt über, sodass sich dabei immer niedrigere Sphären - bewohnt von immer niedrigeren Geistern - bilden, zuletzt der mit Materie behaftete Mensch. Aufgrund dieser kosmogonischen Vorstellung glaubt man - im Unterschied zur theistischen - der Mensch trage in sich noch einen Rest göttlicher Substanz, die er durch Bemühen um geistliches Leben vergrößern könne, um sich der Lichtwelt des göttlichen Pleroma wieder anzunähern. (> Gnosis > Monismus)

Information: Als sich mit der Neuzeit die empirischen Wissenschaften entfalten und durch deren Forschen Natur und Geschichte entmythisiert wird, hat dies auch Folgen für das menschliche Selbstverständnis. Geist und Seele schrumpfen auf die Vernunft und auf Bewusstsein. Nimmt man bei archaischer Weltsicht an, die Seele vereinige sich vorübergehend mit dem Leib, entschwebe aber nach dem Tode wieder in die jenseitige Welt, gilt nun die menschliche Vernunft mit dem Leib untrennbar verbunden. Außerdem glaubte man nicht mehr, der menschliche Geist bedürfe der Erleuchtung durch einen göttlichen. Da nun diese Rückkoppelung an ein überlegenes Geistiges wegfällt, findet eine > Inflation des Bewusstseins statt. Dies hat Folgen für die Auffassung sittlichen Tuns. Zum einen glaubt man, der Mensch könne mit seinem Geist allein erkennen, was gut und was böse ist. Zum andern nimmt man an, der Mensch sei seiner Natur nach gut. Er müsse erkennen, was richtig sei, dann könne er es auch tun: Er sei nicht auf göttliche Gnade angewiesen.

Mit der Entdeckung des arteigenen (kollektiven) Unbewussten bzw. des > Selbst wird dieses positivistische Menschenbild ebenfalls überholt. Heute versteht man das menschliche Selbst als eingebettet in ein umfassendes - nunmehr ebenfalls naturhaft verstandenes - Geistiges. Beim zweiten Schritt der Bewusstseins-Mutation ist nicht nur eine neue Vorstellung des Begriffspaares von Materie (> Materie/Materialismus) und > Geist erarbeitet worden. Es wird auch deutlich, dass die zur archaischen Weltsicht gehörende - durch Reflexion über die Frage nach der Entstehung der Welt erarbeitete - Vorstellung des Schöpfergottes die Figur eines naturerklärenden > Mythos ist. Die Entdeckung des Selbst als einer im Unbewussten existierenden Führungsinstanz der gesamten Psyche, welche über das phylogenetisch erworbene - für die menschliche Art spezifische - Know-how des Lebens verfügt, hat vor allem Konsequenzen für die > Ethik. Durch sie wird die subjektivistische Ethik des positivistischen Menschenbilds, welche der Willkür im Tun und Lassen Tür und Tor geöffnet hat, überwunden. Ethik ist nun wiederum in der objektiven Wirklichkeit verankert, gehört doch das Unbewusste per definitionem zum Nicht-Ich, d. h. zum objektiven Bereich der Wirklichkeit. Objektiv verankert ist auch die aus dem archaischen Menschenbild sich ergebende Ethik gewesen. Zwar werden damals die in Gestaltungen des Unbewussten auftretenden Veranschaulichungen des Selbst noch konkretistisch - als göttliche Wesen - apperzipiert, doch gehört auch die jenseitige Welt, die der archaische Mensch als Wohnsitz Gottes annimmt, zum Nicht-Ich. Als Jung die "Entdeckung" des Selbst veröffentlicht, stößt er in dem noch positivistisch geprägten Umfeld auf allgemeine Ablehnung. Deswegen ist es für ihn erleichternd, in indischen Vorstellungen eines Rests göttlicher Substanz in der menschlichen Seele eine historische Präformation des Selbst zu finden. In der reinsten Ausformung des gnostischen Religionstyps - dem Inana Yoga - nennt man den göttlichen Rest im Menschen Atman und das unpersönliche göttliche Pleroma Brahman. Allerdings stellt man sich - entsprechend der archaischen Weltsicht - vor, der Atman partizipiere an Brahman; er sei von diesem unabgetrennt. So hat Jung zwar die archaische Weltsicht de facto überwunden, ist ihr aber möglicherweise auch teilweise verhaftet geblieben und hat deswegen den fundamentalen Unterschied zwischen der gnostischen und der neuen Auffassung des Selbst nicht genügend deutlich herausgearbeitet, mit der Folge, dass manche Analytische Psychologen die archaische Auffassung des Atman unkritisch übernommen und so archaisches und neues Menschenbild miteinander vermischt haben. (> Prä-Trans-Verwechslung)

Literatur: Obrist, W. (1988): Neues Bewusstsein und Religiosität.

Autor: W. Obrist