Tantrismus

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Keyword: Tantrismus

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Definition: Der Tantrismus (Tantra, sanskrit: Fäden, Gewebe) ist eine religiöse und philosophische Strömung, die vom 4. Jahrhundert an die indische Philosophie, Mystik, Ethik, Kunst und Literatur beeinflusste. Der Tantrismus sieht zwischen den Polaritäten des Seins, z. B. Makrokosmos und dem Mikrokosmos (Körper), Universal- und Einzelseele, Mensch und Gott, Mann und Frau keinen Dualismus und beschreibt Erlösung als deren Wiedervereinigung (> coniunctio) zu der ursprünglich ungeteilten Einheit. Diese Einheit wird mithilfe magischer, meditativer, zum Teil auch orgiastischer Rituale und Übungen angestrebt.

Information: Entlang der Wirbelsäule sind nach tantrischer Vorstellung eine Reihe von Enegeriezentraen, Chakren genannt (Blüte)n, angeordnet und durch Kanäle miteinander verbunden. Sie repräsentieren verschiedene weibliche und männliche Prinzipien, die im Kundaliniyoga miteinander verbunden werden sollen. Die Kundalini als die universale Ur- und Lebensenergie (Shakti) wird als eine um die Wirbelsäule gerollte Schlange dargestellt, die im unerweckten Zustand zusammengerollt am unteren Ende der Wirbelsäule, dem niedrigsten Chakra liegt. Durch meditative Übungen konzentriert sich der Übende, von unten nach oben vorgehend, auf die einzelnen Chakren und vergegenwärtigt sie sich körperlich. Dadurch wird die "Schlangenkraft" geweckt und aktiviert. Ihre feurige Energie "steigt" auf. Sie "belebt" die Chakren und die damit verbundenen Persönlichkeitsapskete und Komplexfelder und "brennt" in ihnen alle "Schlacken" und "Unreinheiten" weg, die einem vollständigen Funktionieren und einer völligen "Entfaltung" der "Blüten" der Chakren oder dem "Rotieren der Energieräder" der Chakren im Wege stehen. Die aufsteigende Schlangenenergie vereinigt sich schließlich mit Shiva, dem spirituellen Bewusstsein im obersten Chakra, wodurch es zur Erleuchtungserfahrung kommt.

Der Tantrismus ist es eines der frühesten ganzheitlichen Modelle der Persönlichkeit und deren Aspekte. C. G. Jung hat sich mit den tantrischen Vorstellungen intensiv auseinandergesetzt (vgl. Jung, 1998) und suchte in ihren Symbolen und Beschreibungen Parallelen zur > Analytischen Psychologie und zum > Individuationsprozess aufzuzeigen.

In der Literatur sind verschiedene tiefenpsychologische Interpretationen zu finden, die sich wie folgt zusammenfassen lassen: Bei der Aktivierung der Kundalini"schlange" handelt es um die Aktivierung psychischer Energie und um die Auseinandersetzung mit zentralen archetypischen Eigenschaften, Komplex- und Konfliktfeldern.

Muladhara, das unterste Chakra, symbolisiert die Erde und Materie. Hier findet sich, nach tantrischer Auffassung, die Ur-Energie, die Lebenskraft, die Libido, hier sind die Grundbedürfnisse des Lebens und Überlebens angesiedelt (Selbsterhaltung, Sicherheit, Nahrung, Schlaf, Bewegung, Vitalität, Energie etc.); es ist das Bewusstseinsniveau des unreflektierten, automatischen, animalischen alltäglichen Lebens. Aus diesem Zustand gilt es nun, die Kundalini-Energieschlange zu wecken und zu höherer Bewusstheit aufzusteigen.

Das zweite Chakra, Svadhisthana, befindet sich auf der Höhe der Genitalien und ist deshalb hauptsächlich mit der Sexualität und entsprechenden Triebregungen und Fantasien verbunden. Insofern im sexuellen Trieb auch Sehnsüchte nach Vereinigung mit dem Gegengeschlechtlichen und dem Transpersonalen enthalten sind, beginnen sich hier schon spätere Aspekte der Individuation anzudeuten, wenn auch noch auf einer ganz elementaren Ebene.

Im dritten Chakra, Manipura, das der Bauchregion und dem Sonnengeflecht zugeordnet ist, sind elementare Selbsterhaltungsbedürfnisse und Affekte lokalisiert (Haben, Besitzen, Macht, Aggression).

Das vierte (Herz-) Chakra, Anahata, nimmt eine Mittelstellung zwischen oben und unten ein. Es steht für Einfühlung, Mitgefühl und Zuneigung.

Das fünfte (Kehlkopf-) Chakra, Visuddha, repräsentiert die Welt der Sprache, der Kommunikation und der Gedanken und das sechste, Ajna, höhere psychische Fähigkeiten, Intuition und veränderte, geistige Bewusstseinszustände (Stirn, zwischen den Augenbrauen, das "dritte Auge“).

Sahasrara, das siebte Chakra schließlich, das im Gehirn oder auf dem Scheitel angesiedelt wird, wird mit spirituellen und transzendenten Erfahrungen verbunden. Im Aufsteigen soll die Kundalinischlange das Unterste mit dem Obersten verbinden und die körperlich-geistige Ganzheit und Einheit des Menschen offenbar werden lassen.

L. Sannella ist der Auffassung, dass einige klinisch zu beobachtende seelische und körperliche Phänomene (z. B. kreisende Energieempfindungen, spontane Atem- und Körperbewegungen, Lichterfahrungen), die von der traditionellen Psychiatrie als psychotisch klassifiziert werden, deutliche Parallelen zum Kundaliniyoga haben und besser als spirituelle Krisen verstanden werden sollten (Sannella, 1990).

Literatur: Jung, C. G. (1998): Die Psychologie des Kundaliniyoga; Sannella, L. (1990): Kundalini: Klassisch und klinisch.

Autor: L. Müller