Dichtung: Unterschied zwischen den Versionen
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Aktuelle Version vom 20. Juli 2024, 12:02 Uhr
Keyword: Dichtung
Links: > Bewusstsein, schöpferisches > Literatur > Kreativität > Kunst > Musik > Schöpferisches > Vision
Definition: Dichtung als eine der Erscheinungsformen der psychischen Tätigkeit (> Kunst) kann ebenso Gegenstand psychologischer Betrachtung sein wie jede andere seelische Geistes- oder Tätigkeitsform. In der Analytischen Psychologie (> Analytische Psychologie) hat die Beschäftigung mit der Dichtung wie mit anderen „Symbolsystemen“, mit Musik und Malerei, Mythologien, Religionen, Philosophie, mit Volkskunst, Volksglauben, Aberglauben mit Wissenschaften deswegen Tradition, weil mit ihr, aus der Einbeziehung und Betrachtung all dieser nicht pathogenen Äußerungen, der Ganzheit des psychischen Lebens näher zu kommen ist. C. G. Jung unterscheidet zwei Kategorien des dichterischen Werks: die psychologische und die visionäre Dichtung.
Information: Die ‚psychologische‘ Dichtung, sie könnte auch: Dichtung aus dem Bewusstsein heißen, nennt Jung deswegen so, weil sie Inhalte ausgestaltet, die dem Bewusstsein des Dichters und des Lesers zugänglich oder zumindest einfühlbar sind. Es sind schicksalhafte Lebenserfahrungen, Inhalte, die aus dem menschlichen Leben und Erleben stammen und in immer neuer Weise und in den unterschiedlichen literarischen Genres dichterisch gestaltet und erhöht werden: „Dieser Stoff ist aufgenommen in die Seele des Dichters, aus dem Alltäglichen zur Höhe seines Erlebens emporgehoben und so gestaltet, dass sein Ausdruck mit überzeugender Kraft das an sich Gewöhnliche, nur dumpf oder peinlich Gefühlte und darum auch Gescheute oder Übersehene, in das hellste Bewusstsein des Lesers rückt und ihn damit zu höherer Klarheit und weiterer Menschlichkeit entrückt. Der Urstoff dieser Gestaltung entstammt der Sphäre des Menschen [..] er ist Inhalt des menschlichen Bewusstseins, in seiner dichterischen Gestaltung erklärt und verklärt.“ (Jung, GW 15, § 139) Ein Beispiel dafür könnte Faust, Teil 1 sein, in dem Goethe die Geschichte eines alternden Gelehrten und eines jungen unerfahrenen Mädchens miteinander verflicht und in einer Katastrophe enden lässt. Faust Teil 2 hingegen gehört zur zweiten Art der Dichtung.
Visionäre Dichtung ist grundsätzlich anders. Auch sie bedarf eines Künstlers, der fähig ist zu dichterischer Gestaltung, aber der Stoff, der gestaltet wird, ist nichts, was dem Dichter und dem Leser aus ihrem bzw. dem allgemeinen und kollektiven menschlichen Leben wirklich vertraut ist. Der Stoff ist unbekannt, fremd, überwältigend, scheinbar aus Unter- oder Überwelten stammend, chaotisch, überwältigend schön oder genauso schreckenerregend, bisher anerkannte menschliche Werte sprengend, auch die bisher geltenden Formen auflösend. Um einen solchen Inhalt dichterisch zu erfassen, muss der Dichter um Worte ringen, kann nur Ahnung erregen, nicht Wissen vermitteln. Jung bezeichnet das als künstlerische Gestaltung einer „Ur-Vision“. Dem Kunstwerk liegt für Jung ein wort- und bildloses Urerlebnis, er spricht auch von einer „Vision in dunklem Spiegel“ (Jung, GW 15, § 151) – zugrunde. Die persönliche Biografie und Psychologie des betreffenden Künstlers, sind angesichts dieses archetypischen Ereignisses irrelevant, das visionäre Kunstwerk ist ein Bild, das aus dem kollektiven Unbewussten auftaucht, Träume, Ängste, Ahnungen lebendig werden lässt. Der gestaltete Stoff entspringt „dem tiefen Dunkel jenseits des Vorhangs“. Die ihm zugrunde liegende Vision „ist nichts Abgeleitetes, nichts Sekundäres und nichts Symptomatisches, sondern ein wirkliches Symbol, nämlich ein Ausdruck für unbekannte Wesenheit.“ (Jung, GW 15, § 148) Der Gegenstand der Vision steht jenseits der Grenzen des Bewusstseins. Aufgrund seiner spezifischen Begabungen kann ein Dichter diese Ur-Vision zwar für seine Zeit auf seine Weise bestmöglich gestalten, aber häufig nicht so, dass ihre Inhalte schon klar kommuniziert und von einem breiten Publikum spontan verstanden werden könnten (> Symbol > Funktion, transzendente).
Die visionäre Dichtung ist kompensatorisch zur Bewusstseinslage des Kollektivs und des Einzelnen und Jung warnt nachdrücklich davor, das visionäre Erlebnis des Künstlers psychologisch erklären und auf eine persönliche oder kollektive Erfahrung zurückführen zu wollen. Denn damit verliere der visionäre Inhalt seinen ‚Urcharakter‘, die ‚Ur-Vision‘ werde zum Symptom, die Vision des Chaos werde zur seelischen Störung (Jung, GW 15 §146). Damit werde das Kunstwerk pathologisiert und seiner – die Einseitigkeit und Festgefahrenheit des jeweils herrschenden kollektiven Bewusstseins – kompensierenden Bedeutung beraubt. Auch E. Neumann greift diesen Aspekt des visionären Schaffens in seiner Auseinandersetzung mit dem Schöpferischen auf.
Literatur: Dieckmann, H. (1981): Archetypische Symbolik in der modernen Kunst; Neumann, E. (1954): Kunst und schöpferisches Unbewusstes; Neumann, E. (1959 b): Der schöpferische Mensch.
Autor: M. Rafalski