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Aktuelle Version vom 20. Juli 2024, 12:02 Uhr
Keyword: Spiegeln
Links: > Akzeptanz > Empathie > Entwicklungspsychologie > Narzissmus > Resonanz > Säuglingsforschung > Selbstpsychologie > Selbstwertgefühl > Spiegelübertragung > Urbeziehung
Definition: Der Begriff Spiegeln wird umgangsprachlich verwendet als sich in einem Spiegel abbilden wie auch als Spiegel ein Spiegelbild geben, außerdem auch als Bezeichnung für einen glänzenden Widerschein: "glänzend wie ein Spiegel". D. Winnicott (1971) beschreibt die Spiegelfunktion als wesentliches Element im Dialog der Mutter-Kind-Beziehung (> Urbeziehung). Sie ist die Voraussetzung für die Ausbildung des "wahren Selbst" (> Selbstkonzept > Selbstpsychologie). Spiegeln bedeutet eine freudige, ganzheitliche Bestätigung des Kindes, seiner Individualität und Persönlichkeit durch die Mutter bzw. seine Eltern u. a. Bezugspersonen. H. Kohut spricht vom "Glanz im Auge der Mutter" als wesentlicher narzisstischer Bestätigung, die für das Entwickeln eines gesunden Selbstwertgefühls grundlegend ist. Kohut gibt dem Vorgang des Spiegelns in seiner Selbstpsychologie zentrale Bedeutung. Er spricht auch vom "empathischen Widerhall", dem Echo auf die Äußerungen seines Daseins, das der Einzelne braucht, um sich real als Individuum (> Individualität) und als Teil der Gesellschaft anerkannt zu fühlen. Es ist für die Entwicklung eines gesunden Selbst- und Icherlebens so wichtig wie der Sauerstoff zum Atmen. Im empathischen Widerhall sieht er auch einen entscheidenden Faktor für das Gelingen einer Analyse (> Spiegelübertragung).
Information: Spiegeln in früher Kindheit beschreibt Kohut folgendermaßen: Der Säugling ist anfänglich mit der Mutter verschmolzen und kann sich noch nicht als eigenes Selbst erleben. Auch wenn er mit der Zeit kognitiv die Mutter als eine, von sich selbst getrennte, eigene Person erfassen kann, erlebt er sie emotional zum Selbst gehörend, da sie, aus seiner Sicht, einzig für das Wohlbefinden des Kindes da zu sein hat. Die Mutter bezieht sich während ihrer Pflege-Aktivitäten in verschiedener Weise auf die einzelnen Teile des kindlichen Körpers, dessen Körperempfindungen und Regungen und auf das Kind als Ganzes. Dabei werden nicht nur die triebhaften Bedürfnisse des Kindes befriedigt. Durch empathische Zuwendung wird ihm gleichsam ein Spiegel vorgehalten, durch den es sich mit der Zeit als ganzes Selbst erkennen und erleben kann. Weiterhin ist nach Kohut von wesentlicher Bedeutung, dass die magische Omnipotenz und die spontan exhibitionistischen Aktivitäten des Säuglings bei der Mutter auf Freude und einfühlende Spiegelung stoßen, sodass das Kind den "Glanz im Auge der Mutter" (eine fast formelhaft wiederkehrende Satzprägung Kohuts für diesen Zusammenhang) erleben und auf sich beziehen kann. Für die weitere Ausbildung eines kohärenten Selbst als Grundlage des Gefühls, ein unabhängiges Zentrum eigener Initiative und Wahrnehmung zu sein und eine körperlich-seelische Einheit zu bilden, sind jedoch neben der notwendigen mütterlichen Spiegelfunktion unumgängliche schrittweise Versagungen der grenzenlosen kindlichen Bedürfnisse nach Bewundertwerden und Allmacht (> Größenfantasie) erforderlich. Bei optimaler Versagung kann die, in einfühlender Weise spiegelnde, Mutter schrittweise zu einer eigenen Struktur verinnerlicht werden.
Die Beschreibungen und die Interpretationen der frühen Mutter-Kind-Beziehung bei D. Winnicott, Kohut und der Selbstpsychologie kommt damit sehr nahe an E. Neumanns Beschreibungen der Differenzierung des kindlichen Selbst und der Entwicklung des kindlichen Ich aus dem Selbst der Mutter-Kind-Dyade (> Anthropozentrismus > Bewusstseinsentwicklung > Ich-selbst-Achse). Unterschiede resultieren vor allem daraus, dass die analytische Entwicklungspsychologie das Selbst als gleichermaßen in der Mutter-Kind-Beziehung wie auch im kollektiven Unbewussten und der archetypischen Mutter-Kind-Beziehung verankert.
In der Psychoanalyse hat sich der Begriff des Spiegelns inzwischen mit einer Vielzahl von Bedeutungen angereichert: Von der einfühlsamen Aufmerksamkeit gegenüber den kindlichen Äußerungen, der Imitation der affektgetönten Mimik und Gestik bis hin zum modalitätsübergreifenden Übersetzen der kindlichen Signale (vgl. Mertens, 1998) Der Übersetzungsvorgang in eine andere Sinnesmodalität, z. B. die Versprachlichung der freudigen Mimik des Kindes, ist von D. Stern als "Affektattunement" bezeichnet worden. Aus psychoanalytischer Sicht sei nicht nur die liebevolle und warmherzige Zuwendung zum Kind wichtig, sondern vor allem die Fähigkeit einer Mutter, die entstehenden Intentionen und Wünsche ihres Kindes in sich selbst nachvollziehen zu können. So werde dem Kind die Gewissheit vermittelt, dass seine innere Welt von seiner Mutter verstanden und in ihr bewahrt wird (> Container/Containing).
Literatur: Jacoby, M. (1985): Individuation und Narzissmus; Kohut, H. (1979): Die Heilung des Selbst; Winnicott, D. W. (1971): Vom Spiel zur Kreativität.
Autor: A. Kuptz-Klimpel