Ärger: Unterschied zwischen den Versionen

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Aktuelle Version vom 20. Juli 2024, 12:02 Uhr

Keyword: Ärger

Links: > Affekt > Aggression > Eifersucht > Emotion > Hass > Konflikt > Langeweile > Neid

Definition: Ärger ist eine > Emotion (> Affekt), mit der Menschen reagieren, wenn sie in ihrer Selbsterhaltung oder in ihrer Selbstentfaltung gestört werden: Selbsterhaltung ist dann betroffen, wenn die Emotion Ärger Schwierigkeiten mit den eigenen Grenzen wie dem eigenen Selbstwert, bei Erfahrungen von etwas Beleidigendem oder Aversivem, reguliert; Selbstentfaltung ist insofern gemeint, als die Emotion Ärger zur archetypischen Spannung zwischen Wir und Ich und damit archetypisch zur Entfaltung innerhalb von Beziehungen gehört.

Information: Wenn Ärger eine Störung in der Selbsterhaltung ausdrückt, geht es um Angriffe auf das Selbstkonzept und das > Selbstwertgefühl. Sind die Grenzen von außen bedroht, fühlt sich das > Individuum nicht richtig wahrgenommen oder übergangen, ausgenutzt; der Respekt wird ihm versagt; es erlebt Anforderungen der Umwelt als ungerechtfertigt; andere Menschen nehmen sich eine seelische oder körperliche Nähe heraus, die unangemessen oder übertrieben erscheint, bis hin zu körperlichen Angriffen. Ebenso wenn ein gewohntes Maß an Zuwendung unterschritten wird, werden Menschen ärgerlich und wütend, besonders dann, wenn Trennungs- und Verlassenheitsängste aktiviert werden. Sind Menschen in etwas vertieft, sind Störungen dann mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Ärgernis.

Menschen ärgern sich auch, wenn sie aktiv sein, Ideen verwirklichen oder etwas durchsetzen wollen und sich ihnen zu viele Widerstände entgegen stellen, wenn es also um ihre Selbstentfaltung geht, wenn sie die Grenzen ihres bisherigen Lebens erweitern wollen. Diese Aufzählung ist in keiner Weise vollständig, zeigt aber, dass Ärger auslösende Ereignisse unspezifisch sind. Allgemein gilt: Menschen ärgern sich öfter in Beziehungen, die ihnen wertvoll sind, und sie ärgern sich in der eher und auch intensiver, wenn das Ärger auslösende Motiv als böswillig decodiert wird und wenn Ärger auslösende Mitmenschen in ihrem Verhalten als rücksichtslos, willkürlich oder böswillig erlebt werden.

Aber auch von innen her können die Grenzen bedroht werden: Menschen ärgern sich darüber, dass sie von einem Gedanken, etwa einem Neidgedanken oder einer Sorge, nicht loskommen, dass dieser sie besetzt und sie sich nicht dagegen wehren können. Oder Menschen ärgern sich über sich selbst.

So oft, wie Menschen sich selber ärgern, so oft sind sie wahrscheinlich auch Ursache von Ärger bei anderen Menschen. Man ärgert sich nicht nur, man ärgert auch andere Menschen, greift ihre Grenzen an, stört ihre Kreise, durchkreuzt ihre Intentionen, strapaziert ihren Selbstwert. Lichtenberg (1992) beschreibt, wie das „Aufwallen der Selbstbehauptung“, vor allem im zweiten Lebensjahr, mit unvermeidlichen Einschränkungen durch die Beziehungspersonen kollidiert, und das Kind mit Wut reagiert, aber auch hin und her gerissen ist zwischen dem Zeigen der Wut und dem Bedürfnis, wieder die Nähe zur Beziehungsperson herzustellen. Hier wird deutlich, wie die Bedürfnisse nach Selbstbehauptung, Ich-Aktivität und > Autonomie einerseits und nach Abhängigkeit und Aufrechterhalten von Beziehungen andererseits miteinander verzahnt sind und in Konflikt stehen können. Ärger unterbricht den normalen Fluss der Beziehung. Dieses Unterbrechen zwingt dazu, sich bewusst darüber zu werden, was überhaupt geschehen ist. Dieser Konflikt ruft nach einer Grenzbereinigung, nach einer Grenzsetzung, vielleicht nach einer Grenzverteidigung oder einer neuen Grenzziehung, aber auch nach einer Grenzauflösung. Und leider führt der Konflikt oft zu einer Grenzüberschreitung, auf jeden Fall nach einer Besinnung auf Grenzen, einer Besinnung darauf, was in der entsprechenden Situation wichtig ist, und dabei geht es oft um die Wahrung der eigenen Integrität und Würde.

Durch das Überschreiten oder das Missachten der Grenzen fühlen sich Menschen in ihrem Selbstwertgefühl beeinträchtigt, die Selbstwerthomöostase muss durch den Ausdruck des Ärgers wieder hergestellt werden, möglichst so, dass nicht noch viel mehr Ärger, aber auch nicht zu viel Angst entsteht. Es entstehen meist blitzschnell und oft auch zunächst wenig bewusste Ärger-Fantasien: Aggressive Handlungen werden fantasiert, auch die Gegenreaktionen, die dann eintreten könnten und die vielleicht wiederum Angst auslösen. So wird die Ärger-Fantasie modifiziert. Ist die Ärger-Fantasie gefunden, die eine Reaktion auslösen könnte, der man sich gewachsen fühlt, wird überlegt, ob sie in Szene gesetzt werden soll.

Es stellt sich also die Frage nach der angemessenen Reaktion: Soll der Ärger ausgedrückt werden? Wie? Oder muss auf der Handlungsebene etwas verändert werden? Oft braucht gar nichts getan zu werden, weil das Selbstwertgefühl bereits durch die Idee, sich zu wehren, wieder stabilisiert ist.

Zulassen und Umgehen mit Ärger heißt nicht nur, sich feindselig zu verhalten, sondern darin sind auch viele andere Verhaltensmöglichkeiten enthalten. Mit dem Ärgerausdruck erfolgt die Mitteilung an einen Mitmenschen, dass eine Grenzverletzung stattgefunden hat, dass etwas wieder in Ordnung gebracht werden muss. Es geht beim Ausdruck von Ärger auch um die Erlaubnis zur Aktivität, zur Entwicklung, was schließlich eine Lebensaufgabe ist. Dies geschieht in der Auseinandersetzung mit einem wichtigen Anderen, dessen Integrität auch gewahrt werden muss. Ärger fordert immer wieder neu Abgrenzung innerhalb von Verbundenheit.

Der Sinn des Ärgers ist es, Situationen so zu verändern, dass Selbsterhaltung und Selbstentfaltung immer wieder neu ermöglicht werden, so gut das eben geht, im Dialog mit einem Du, in der Beziehung zu einem Du, das genau dasselbe anstrebt. Im Ärger steckt die Energie, diese Veränderungen anzugehen. Ärger-Äußerungen lösen aber auch > Angst aus. Angst bremst den konstruktiven Umgang mit Ärger und bewirkt, dass diese Abgrenzungen nicht vorgenommen werden.

Literatur: Izard, C. E. (1981): Die Emotionen des Menschen; Kast, V. (1998): Vom Sinn des Ärgers; Kast, V. (1998): Abschied von der Opferrolle.

Autor: V. Kast