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Aktuelle Version vom 20. Juli 2024, 12:02 Uhr
Keyword: Literatur
Links: > Dichtung, visonäre > Hermeneutik > Kreativität > Kunst > Schöpferisches
Definition: Literatur (lat. litera: Buchstabe, Schrift, schriftliche Aufzeichnung, Schriftstück) umfasst in einem weiten Sinn alle schriftlichen geistigen Erzeugnisse, auch aus Wissenschaft und Forschung, wird hier aber im engeren Sinne als > Dichtung verstanden. Als solche umfasst sie sprachliche, von einer Dichterpersönlichkeit geschaffene Kunstwerke, aber auch vorliterarische, mündlich überlieferte, anonyme Formen wie > Märchen, > Mythos, Sage, Sprichwort und Volkslied. C. G. Jung, E. Neumann u. a. setzen sich sowohl mit diesen "einfachen Formen", ebenso wie auch mit Lyrik und klassischer zeitgenössischer Weltliteratur auseinander: Goethes "Faust", Nietzsches "Zarathustra", Dantes "Göttliche Komödie", Joyces "Ulysses" und andere Dichtungen. Es liegen aber keine "psychoanalytischen Interpretationen" vor und Jung versucht diese auch nicht, weil Literatur wie alle > Kunst für ihn Ausdruck der schöpferischen Psyche (> Schöpferisches) ist. Man kann sie beschreiben, ihre Wirkung erfassen, sich ihr hermeneutisch (> Hermeneutik) annähern, aber nicht sie analysierend interpretieren. Von Interesse sind für Jung die Frage des Typenproblems in der Dichtkunst und die Rolle des Symbols.
Information: Zahlreiche Interpretationen liegen aus der Analytischen Psychologie (> Analytische Psychologie) zu > Märchen (> Liebingsmärchen) vor, in denen sich der archetypische Individuationsweg (> Individuation > Individuationsprozess) deutlich nachweisen lässt. Jung liefert dazu einen Beitrag mit dem Titel "Zur Phänomenologie des Geistes im Märchen“ (vgl. Jung, GW 9/1). Viele knüpfen hier an, vertiefen und erweitern aber den Horizont der Forschung beträchtlich, wie dies die ausführlichen Märcheninterpretationen von H. v. Beit, M. -L. v. Franz, S. Birkhäuser-Oeri, V. Kast, I. Riedel und H. Dieckmann dokumentieren. E. Jung oder Neumann und M. -L. v. Franz bleibt es vorbehalten, die Brücke zwischen Analytischer Psychologie und mittelalterlichem Mythos zu schlagen und in einer umfangreichen Abhandlung von 1960 die Graalslegende in psychologischer Sicht zu untersuchen. A. Jaffé interpretiert 1950 sehr ausführlich Bilder und Symbole aus "Der Goldene Topf" von E. T. A. Hoffmann und betritt mit der Untersuchung dieses, von einem romantischen Autor verfassten, Kunstmärchens den eigentlichen Boden der neuzeitlichen Literatur. Ihr folgt auf diesem Terrain 1952 E. Neumann mit einem tiefenpsychologischen Kommentar zu einem allerdings antiken Text, dem Kunstmärchen "Amor und Psyche" des altrömischen Schriftstellers Apuleius. Noch einmal greift v. Franz 1980 auf dieses kleine Werk zurück und bettet es in die Gesamtdeutung des ganzen Romans "Metamorphosen oder Der goldene Esel" ein. Außerdem legt die Autorin 1962 und 1987 umfangreiche Interpretationen des Romans "Das Reich ohne Raum" des deutsch-baltischen Schriftstellers B. Götz und des modernen Märchens "Der kleine Prinz" von A. de Saint-Exupéry vor. Bereits 1947 hat L. Fierz-David die Erzählung "Der Liebestraum des Poliphilo oder Hypnerotomachia" des Mönches Francesco Colonna aus der italienischen Frührenaissance gedeutet. 1963 stellt C. Brunner den Roman "She" des englischen Schriftstellers H. Rider Haggard als literarisches Beispiel für die Bedeutung der Anima als Schicksalsproblem des Mannes dar und vergleicht ihn auch mit dem Werk "L'Atlantide" des französischen Romanciers P. Benoît. Übrigens hat Jung die Titelheldinnen der beiden Bücher immer wieder erwähnt und als besonders eindrückliche Verkörperungen des "Anima"-Archetyps bezeichnet. Zwischen 1974 und 1984 umkreist in mehreren Aufsätzen I. Riedel die Problematik von Ingeborg Bachmanns Roman "Malina" aus der Perspektive der Analytischen Psychologie.
Die Literaturwissenschaft hat sich der Analytischen Psychologie als Methode zur Textinterpretation anfangs nur zögerlich, aber im Laufe der Zeit immer mehr angenähert und bedient, sodass die Anzahl der Arbeiten in dieser Hinsicht heute kaum noch übersehen werden kann. Freilich ist die > Psychoanalyse im Bereich der Literaturpsychologie noch stärker vertreten, weil Freuds Begriffe sich präziser, einfacher und griffiger auf die Biografie des Autors und die Einbeziehung der Gesellschaft eines literarischen Kunstwerkes anwerden lassen als Jungs Termini, deren schwebende Vieldeutigkeit eine klare interpretatorische Zuordnung in Bezug auf Gestalten, Symbole und Motive einer Dichtung erschwert. Aus der Fülle der literaturwissenschaftlichen Abhandlungen, die sich auf die Analytische Psychologie beziehen, können nur einige wenige Beispiele hervorgehoben werden. Im Bereich der allgemeinen Theoriebildung und Literaturkritik seien hier für den englischsprachigen Raum M. Bodkins "Archetypal patterns in poetry" von 1934 und Bettina L. Knapps "Jungian approach to literature" von 1984, für den deutschsprachigen Bereich die einschlägigen Arbeiten von Joseph Strelka und Albert M. Reh erwähnt, die beide auch die Brücke von Jung zu Freud schlagen. Reh konkretisiert seine Erkenntnisse vor allem an Lessing. Überhaupt sind einige an Jung orientierte Aufsätze und Abhandlungen bisher zu Goethe, Hofmannsthal und Thomas Mann erschienen. Schmitt (vgl. Schmitt, 1999) gibt eine Einführung in die Analytische Psychologie für Literaturwissenschaftler und diskutiert anhand zahlreicher Belege die Bedeutsamkeit der Konzepte der Analytischen Psychologie für ihre Verwendbarkeit in der Analyse literarischer Texte. Auch gibt es etliche andere Einzeluntersuchungen, die Begriffe der Analytischen Psychologie auf spezifische Dichter und ihr Werk anwenden. Stellvertretend für diese Arbeiten seien hier nur H. Goldmanns Studie zur Symbolik der Dichtungen Georg Trakls von 1957, E. Borchardts Buch über mythische Strukturen im Werk Heinrich von Kleists von 1987 und G. Baumanns Interpretation der Erzählungen Hermann Hesses im Lichte der Psychologie Jungs von 1989 genannt.
Literatur:
Autor: F. Schröder