Enantiodromie
Keyword: Enantiodromie
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Definition: Den Begriff der Enantiodromie (griech. enantiodromia: Entgegenlaufen) hat C. G. Jung als psychologisches Gesetz von „der regulierenden Funktion der Gegensätze“ von Heraklit übernommen (vgl. Jung, GW 7, § 111), um einen wesentlichen Aspekt der > Selbstregulation der > Psyche zu bezeichnen, nämlich, dass aufgrund der polaren Struktur der Psyche und des Lebens nicht nur eine unauflösliche Spannung zwischen den Polen (> Polarität > Gegensatz) herrscht, sondern auch ein beständiger Wechsel stattfindet. Dieser Wechsel ist für Jung der eigentliche Motor alles Lebendigen.
Information: keine
Das Prinzip der ständigen Wandlung und der fortwährenden Überführung eines Lebenspols in den anderen findet sich auch als zentrale Vorstellung im > Taoismus, auf den auch Jung in diesem Zusammenhang hinweist. Sowohl in der Auseinandersetzung mit der individuellen (> Individualität), wie auch mit der kollektiven Psyche (> Kollektivpsyche) kommt er immer wieder zu dem Ergebnis, dass jedes Extrem, wenn auch noch nicht sichtbar, seinen Gegensatz in sich trägt oder doch zumindest in Verbindung mit diesem steht. Gerade dadurch entstehe die typische Eigenart jeder extremen Haltung und auch ihre Lösung. Bereits in “Symbole der Wandlung“ (Jung, GW 5) formuliert er das sehr eindrücklich: „Es gibt keinen geheiligten Brauch, der sich nicht gegebenenfalls in sein Gegenteil verkehrt, und je extremer eine Stellung wird, desto eher ist ihre Enantiodromie, ihre Verkehrung ins Gegenteil, zu erwarten. Das Beste ist am allermeisten von teuflischer Verdrehung bedroht, denn es hat das Schlechte am allermeisten unterdrückt.“ (GW 5, 581)
Jede Position, die extrem wird, wird zwangsläufig auf dem Punkt der extremsten Ausdehnung „abgelöst“ durch das Hervortreten ihres Gegenteils. Jung bezeichnet diesen Vorgang auch als „das grausame Gesetz der Enantiodromie“ (vgl. Jung, GW 7, § 112). Die Grausamkeit der Enantiodromie wird immer dann spürbar, wenn eine dominante Einstellung allzu sehr auf strikter Verdrängung ihres Gegenteils aufgebaut war und sich ein neuer Standpunkt, im Sinne eines ausgleichenden Anwachsens einer neuen inneren Position, nicht organisch entwickeln kann. Das Verdrängte setzt sich dann gegen das Verdrängende sowohl individuell, wie auch kollektiv „gewaltsam“ durch, weil der Einzelne bzw. die Gemeinschaft/Gesellschaft sich weigern, ihre extreme Position infrage zu stellen. Ebenso wie in allen beobachtbaren Naturvorgängen und körperlichen Abläufen führt eine zunehmende Störung des natürlichen, kompensatorischen (> Kompensation) Wechsels im Ablauf seelischer Vorgänge zu Irritation, Stress, Erkrankung, Dekompensation und Zusammenbruch des Systems.
Die Enantiodromie kann dann zu einem leidvollen „Auseinandergerissensein in die Gegensatzpaare“ führen (vgl. Jung, GW 7, § 113).
Der Übergang von einer Position in eine andere kann natürlich auch auf „sanftere“ Weise erfolgen, wenn er von einem flexiblen Ich mit einer stärkeren Durchlässigkeit zum eigenen Unbewussten (> Unbewusstes) und höherer Integrationsfähigkeit (> Integration) „erlitten“ wird. Die Enantiodromie kann dann eine „Umwertung der früheren Werte“ bewirken, wie sie als „großes Thema“ etwa in der Lebensmitte, aber auch in vielen alltäglicheren Lebenssituationen gefordert ist. > Kreativität und Gesundheit hängen in hohem Maße davon ab, ob der Mensch in der Lage ist, sich dem Wechselspiel der Polaritäten des Lebens anzuvertrauen, z. B. dem zwischen > Differenzierung und > Integration, zwischen Bewusstem und Unbewusstem (> Unbewusstes), > Introversion und > Extraversion, > Progression und > Regression.
Literatur:
Autor: A. Müller