Freud-Jung-Beziehung

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Keyword: Freud-Jung-Beziehung

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Definition: Die Begegnung zwischen S. Freud und C. G. Jung ist sowohl durch Interessenkoinzidenz als auch durch starke Gegensätze geprägt. Während Freud das Unbewusste (> Unbewusstes) analysieren, dechiffrieren will, um es in Bewusstsein überzuführen und unter die Kontrolle des Ich stellen zu können: „Wo Es war, soll Ich werden“ (Freud, GW 15, S. 86), setzt Jung das Ich an die zweite Stelle und ist von der Dominanz und schöpferisch-steuernden Kraft des Unbewussten überzeugt. Aufgrund seiner starken innerseelischen Spannungen ist Jung immer auf der Suche nach > Sinn, > Integration und > Ganzheit. Die Vereinigung der inneren und äußeren Gegensatznatur, z. B. zwischen den widerstrebenden psychischen Tendenzen oder zwischen exakter Naturwissenschaft und religiösem Gefühl bildet ein zentrales Anliegen seines Lebens. Typologisch ausgedrückt dominiert bei Freud das Denken (> Denken/Denkfunktion), bei Jung die Intuition (> Intuition/Intuitive Funktion). In beiden ist von Anfang an verschiedenes Gedankengut und Interesse angelegt, das sich in je eigener Weise Bahn bricht.

Information: Beide sind, als sie sich kennen lernen, sofort voneinander fasziniert und entwickeln schnell eine idealisierende Beziehung. Freud sucht in Jung den Nachfolger, den Garanten, der seine Gedanken kollektiv verbreiten soll, Jung sucht in Freud die Heilung seiner Gespaltenheit durch den starken Vater, wehrt dies aber gleichzeitig ab. Vermutlich sind die Differenzen von beiden deshalb so schwer auszuhalten, weil die > Idealisierung so stark und die Nähe so groß ist. Hinzu kommt mit dem Altersunterschied von 19 Jahren ein Vater-Sohn-Generationskonflikt. Man kann spekulieren, dass Freud Jung als Sohn „adoptiert“ hatte und sich eine Anerkennung durch ihn als Vater und geistiger Führer gewünscht hätte und dass auch Jung ein Sohn-Verhältnis zu ihm hatte, das aber naturgemäß zur Abgrenzung führt.

Schon vor der ersten persönlichen Begegnung ist eine latente Rivalität und ein Wettlauf um die Urheberschaft zentraler Konzeptionen zu spüren.

Am 3. 3. 1907 treffen sich beide erstmals bei Freud und unterhalten sich sofort 13 Stunden ohne Pause. Sie sind offensichtlich beide sehr voneinander fasziniert, wobei Jung im Rückblick sowohl Bewunderung als auch erste Zweifel berichtet: Er findet Freud „außerordentlich intelligent, scharfsinnig und in jeder Beziehung bemerkenswert“. Aber das, was er ihm über seine Sexualtheorie gesagt habe, habe ihm zwar Eindruck gemacht, aber seine Bedenken und Zweifel nicht behoben (vgl. Jung, Jaffe, 1962, S. 154) Schon im Dezember 1908 erkennt Freud einen anderen Aspekt seines Interesses an Jung: Dass er Arier sei, so glaubt er (> Nationalsozialismus), sichere für ihn die Theorie gegen zu erwartende Angriffe und ist ein zentrales Motiv für den Rang, den Freud Jung einräumt: „Unsre arischen Genossen sind uns doch ganz unentbehrlich, sonst verfiele die > Psychoanalyse dem Antisemitismus.“ (Abraham, Freud, 1965, S. 73)

Der Höhepunkt der Beziehung von Freud und Jung ist wohl durch die Einladung zu einem Kongress in Amerika durch S. Hall im Jahr 1909 markiert. Beide finden viel Anerkennung und ihre Beziehung wird gefestigt. Freud erlebt dies als Befreiung aus der Isolation. Gleichzeitig jedoch entwickeln sich die grundlegenden inhaltlichen Differenzen weiter. In der Korrespondenz kann man immer deutlicher erkennen, dass die wechselseitigen Sympathiebekundungen Ängste vor Differenzen beschwichtigen sollten. Währenddessen arbeitet Jung in „Wandlungen und Symbole der Libido“ (GW 5) erste, von Freuds Theorie abweichende, Vorstellungen von der Dynamik des Archetypischen, des Inzestmotives und des Libido-Begriffes aus. Dieses Werk markiert die Ablösung von Freud. In der Folge kommt es zu weitreichenden inhaltlichen Differenzen und persönlicher Distanzierung. Freud fühlt sich in der für ihn zentralen Sexualtheorie verraten und Jung sich nicht mit seinen eigenen Ideen anerkannt. Später vermutet Jung, dass die > Sexualität für Freud unbewusst eine verdrängte, religiöse Dimension gehabt haben müsse, anders kann er sich dessen Faszination von ihr nicht erklären. Er vermutet, dass es eben gerade diese verdrängte, aber eigentlichere, „mystische“ Dimension gewesen sei, die Freud veranlasst hatte, sich so auf die Sexualtheorie zu fixieren und sie zum Allerwesentlichsten zu erklären.

Im Januar 1913 wird die persönliche Korrespondenz mit folgenden beiden Schreiben beendet: Brief von Freud an Jung am 3. 1. 1913 „Ich schlage Ihnen vor, dass wir unsere privaten Beziehungen überhaupt aufgeben. Ich verliere nichts dabei, denn ich bin gemütlich längst nur durch den dünnen Faden der Fortwirkung früher erlebter Enttäuschungen an Sie geknüpft [..] Ersparen Sie mir die angeblichen ‚Freundschaftsdienste‘.“ (vgl. McGuire, Sauerländer, 1984. S. 253) Jung darauf am 6. 1. 1913 an Freud: „Lieber Herr Professor! Ich werde mich Ihrem Wunsche, die persönliche Beziehung aufzugeben, fügen, denn ich dränge meine Freundschaft niemals auf. Im Übrigen werden sie wohl am besten selber wissen, was dieser Moment für Sie bedeutet. ‚Der Rest ist Schweigen‘.“ (McGuire, Sauerländer, 1984. S. 254) Jung macht später einen Versuch, die Unterschiede theoretisch mithilfe seiner Typenlehre zu verstehen (vgl. Jung, GW 6).

Jung erlebt in den Jahren danach eine schwere Krise, die – unterbrochen durch wenige Aktivitäten und Veröffentlichungen – von 1913 bis 1919 anhält. Hier beginnt sozusagen eine Latenzzeit, in der Jungs eigene Konzepte reifen. Er erzählt später: „Die Jahre, in denen ich den inneren Bildern nachging, waren die wichtigste Zeit meines Lebens, in der sich alles Wesentliche entschied [..]. Meine ganze spätere Tätigkeit bestand darin, das auszuarbeiten, was in jenen Jahren aus dem Unbewussten aufgebrochen war und mich zunächst überflutete. Es war der Urstoff für ein Lebenswerk. (Jung, Jaffé, 1962, S. 203) Dieses Lebenswerk verdankt Freud sehr viel und Jung findet im Alter durchaus versöhnliche Worte: „Rückschauend kann ich sagen, dass ich der Einzige bin, der die zwei Probleme, die Freud am meisten interessiert haben, sinngemäß weitergeführt habe: das der „archaischen Reste“ und das der Sexualität.“ (Jung, Jaffé, 1962, S. 172)

Die traumatische Trennung von Freud und Jung scheint aber so tief greifender Natur zu sein, dass vonseiten der > Psychoanalyse die > Analytische Psychologie auch heute noch so gut wie totgeschwiegen wird und vonseiten der Analytischen Psychologie ein fast ängstlich anmutendes Bemühen da ist, ihre Konzepte mit denen der > Psychoanalyse zu verbinden und doch noch endlich die Anerkennung des Großen Vaters Freud zu erlangen. T. Evers, der sich intensiv mit dieser Thematik auseinandersetzt, schreibt: „Jung ist erfolgreich ins Unbewusste der freudschen Tradition verdrängt [..] So erklärt sich auch jene wiederkehrende Übung in psychoanalytischen Schriften, zu Jung an irgendeiner Stelle einen abfälligen Halbsatz einzubauen. Diese Halbsätze offenbaren häufig, neben ihrer Absicht der Vernichtung, zugleich eine schlagende Unkenntnis der Schriften des Attackierten, die sich der Verfasser bei keinem anderen Schriftenverweis erlauben würde – bis hin zu der Behauptung, Jung habe den Begriff des Unbewussten abgelehnt. Mit Wissenschaft ist das nicht zu erklären – vielleicht mit Abwehr?“ (Evers, 1987, S. 73 f.) 

Literatur: Evers, T. (1987): Mythos und Emanzipation; Jung, C. G., Jaffé, A. (1962): Erinnerungen, Träume, Gedanken von C. G. Jung; McGuire, W., Sauerländer, W. (Hrsg.) (1974): Briefwechsel Sigmund Freud – C. G. Jung.

Autor: D. Knoll