Familie
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Definition: Familie (lat. famulus: Diener; familia: die Gemeinschaft der Diener, die jeweils zu einem pater familias gehören) verweist als Begriff zwar auf eine patriarchale Struktur (> Patriarchat), zugleich aber wird im dahinter stehenden Prinzip die Gemeinschaft, die Solidarität und das Geben und Nehmen betont. Familie ist eine soziale Einrichtung und eine Beziehungsform, die sehr stark von religiösen und ideologischen, von wirtschaftlichen und sozialen Faktoren bestimmt ist. Die soziale und psychische Realität, die Psyche der Familienmitglieder, deren Bindungen, Beziehungen und Konflikte, Hoffnungen und Visionen, ihr subjektiv erlebtes Glück und Unglück, Erfolg und Misserfolg im Leben entscheidet mit über die Entwicklung jedes Einzelnen. Die Veränderungen des traditionellen Systems Familie und ihrer Strukturen seit der Mitte des 20. Jahrhunderts (Alleinerziehende, Patchworkfamilien, Regenbogenfamilien, Familien ohne Blutsverwandtschaften) spiegeln den Zugewinn an sozialer, wirtschaftlicher und psychischer Freiheit in den letzten Jahrzehnten. Zugleich nimmt auch Vereinzelung und Herauslösung aus „familiären“, d. h. vertrauten und haltenden Bindungen zu.
Information: Trotz der strukturellen Veränderungen bleibt Familie idealerweise ein Ort der Wärme und Geborgenheit, der Sozialisation und Enkulturation, der Unterstützung. Die emotionalen Bindungen, Sicherheit, Vertrauen, Zusammenhalt werden häufig stärker als Motivation für ein dauerhaftes Familienleben angesehen als wirtschaftliche Faktoren und sozialer Status. Erziehung ist heute nicht mehr so stark an eine klassische Vater- und Mutterrolle gebunden, zugleich sind die Rechte und Pflichten von Vätern und Müttern ihren Kindern gegenüber gesetzlich geregelt. Ehe und Familie stehen in Deutschland unter besonderem Schutz des Staates (Artikel 6 GG), einhergehend damit sind sowohl besondere Freiheitsrechte, das Familienleben zu gestalten wie auch besondere Pflichten gegenüber den auf Fürsorge angewiesenen Kindern. Es ist Aufgabe der staatlichen Gemeinschaft darüber zu wachen, dass das Wohl von Kindern in den verschiedenen Daseinsbereichen (körperlich, emotional, kognitiv etc.) geachtet wird und einzugreifen, wenn es dauerhaft gefährdet ist.
Die zentrale Funktion der familiären Gemeinschaft ist für die Mutter und das Kind bereits während der Schwangerschaft und danach, einen sozial und psychisch verlässlichen, sicheren, tragfähigen Hintergrund zu schaffen, der es ihr erlaubt, ein Kind gut genug zu bemuttern (> Urbeziehung). Häufig kommt das Getragen-Sein für eine Mutter nicht nicht nur aus der Paar-Beziehung (> Paar), sondern auch aus der größeren familiären Gemeinschaft, die durch die Großeltern, Geschwister, die familiennahen Verwandten und Freunde gebildet wird. Die Säuglingsforschung belegt, dass der Säugling schon in den ersten Monaten des Lebens außer auf die Mutter auch auf andere Personen seines Umfeldes spezifisch reagiert. Die Bedeutung der Familie endet aber nicht nach der frühen Entwicklung des Kindes, sondern setzt sich über das ganze weitere Leben bis zum Tode hin fort. Jeder Mensch trägt wohl ein ideales, archetypisches Bild der guten und heilen Familie in sich, wie sie sich in manchen Mythen, Religionen und Erzählungen spiegeln (die „heilige Familie“).
Eine "genügend gute“ Familie existiert nur für einen Teil der Menschen. Überwiegend negative Familienerfahrungen bis hin zu langandauernder Vernachlässigung von Kindern bzw. schwächeren Familienmitgliedern entstehen nicht selten aus Überforderung, aber auch aus mangelnder Einsicht in die Bedürfnisse von Kindern bzw. anderen Familienmitgliedern und aus der Unfähigkeit, innerhalb von Familien und sozialem Umfeld geeignete Handlungsmöglichkeiten für Konfliktsituationen zu entwickeln. Nicht zu vergessen sind hier die in vielfältigster Weise deprivierenden und Leid erzeugenden kollektiven Lebensumstände.
Im tiefenpsychologischen Denken wird die besondere Bedeutung des familiären Bezugsrahmens dadurch hervorgehoben, dass in therapeutischen Zusammenhängen mit Patienten bzw. Ratsuchenden regelmäßig zu Beginn eine ausführliche Familienanamnese erhoben wird, die im Verlaufe der Therapie immer weiter ausdifferenziert wird. Einerseits werden die interpersonellen Konflikte (> Konflikt) zwischen den Familienmitgliedern und die intrapsychischen Konflikte voneinander getrennt, andererseits wird davon ausgegangen, dass die innerseelischen Konflikte nicht nur Ausdruck individueller Schwierigkeiten im Patienten sind, sondern häufig auch die Konflikte der Bezugspersonen und innerhalb des Familiensystems widerspiegeln (> Familientherapie > Systemtheorie). Das Bewusstsein und die unbewussten Fantasien von Paaren auf dem Weg zur Familiengründung über ihre eigene Elternschaft und über ihre eigenen Erfahrungen mit Familie und familiären Konflikten kann eine Ressource für die eigene Elternschaft im Sinne eines guten Kohärenzgefühls darstellen.
In der Analytischen Psychologie (> Analytische Psychologie) erhalten die > Eltern bzw. Vater und Mutter zudem eine besondere Bedeutung durch ihren Bezug zu archetypischen Konstellationen (> Archetyp > Mutter, Große > Vater, Großer). Wie alle Archetypen sind auch Mutter- und Vaterarchetyp ambivalent, enthalten sowohl die guten (nährenden und fördernden) wie die bösen (versagenden und gefangensetzenden) Aspekte des Mütterlichen wie des Väterlichen. E. Neumann hat die vom Kind geforderte Befreiung aus der archetypischen Beziehung hin zur je altersgerechten Individuation ausführlich dargestellt. Diese archetypisch erforderlichen, hochenergetischen Prozesse fordern das System Familie und die einzelnen Mitglieder besonders in aktuellen entwicklungspsychologischen Schwellensituationen (Trotz, Pubertät, leeres Nest, Krankheit und Tod ...) wie auch in der Individuationsentwicklung in der zweiten Lebenshälfte.
Gerade die Berücksichtigung archetypischer Dimensionen und die Unterscheidung von archetypischer Erfahrung und Projektion einerseits und Realerfahrung mit den Eltern bzw. Bezugspersonen andererseits kann im Umgang mit dem System Familie, seiner psychischen Struktur und seiner Auswirkung auf den Einzelnen sehr hilfreich sein (> Ent-Emotionalisierung, > Personalisierung, sekundäre).
Literatur: Kast, V. (1988): Familienkonflikte im Märchen; Kast, V. (1994): Vater-Töchter Mutter-Söhne.
Autor: A. Müller