Lebenswende

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Keyword: Lebenswende

Links: > Entwicklungspsychologie > Individuation > Individuationsprozess: Zweite Lebenshälfte > Krise > Selbst > Weise, Alte > Weiser, Alter

Definition: Der erste Psychologe, der angesichts des zwischen dem 35. und 40. Jahr beginnenden Lebensübergangs von einer Lebenswende spricht, die in die "zweite Lebenshälfte" hinüberführe, ist C. G. Jung in seinem Vortrag “Die Lebenswende“ von 1930. (vgl. Jung, GW 8) Bei der Lebenswende geht es um die Entstehung eines einheitlichen Geschehens, das in einem großen Bogen die gesamte, so genannte zweite Lebenshälfte (> Individuationsprozess: Zweite Lebenshälfte) umfasst. Jung beschreibt diesen Veränderungsprozess als eine vielschichtige Erfahrung, die vom Unbewussten ausgeht. In dieser Lebensphase bereite sich eine bedeutende Veränderung der menschlichen Seele vor, die zunächst keine bewusste Veränderung ist, sondern etwas, das im Unbewussten seinen Ausgang nimmt: Eine langsame Charakteränderung, die manchmal Eigenschaften wieder zum Vorschein bringt, die seit dem Kindheitsalter verschwunden sind, aber auch bisherige Interessen verblassen lässt. Andererseits beginnen sich die bisherigen Überzeugungen bei manchen zu verhärten.

Information: Angesichts der Lebenswende öffnen sich nach Jung zwei Verhaltensmöglichkeiten: die eine bedeutet, sich an die Veränderungen hinzugeben, die andere, sich am bisherigen, am sich entziehenden Leben festzuklammern. Durch letzteres aber wächst die > Angst. Jung vergleicht den Übergang in die Lebenswende mit dem Übergang von der > Kindheit in die Jugend (> Adoleszenz > Pubertät) und mit dem Sonnenlauf (> Heldenmythos > Individuation > Individuationsprozess): Wie der Pubertierende so weicht auch der Erwachsene angesichts der neuen Lebenswende vor der Unbekanntheit der neuen Welt und des neuen Lebens zurück. Und so wie die Sonne beim Aufstieg am Morgen eine immer größere Erweiterung ihres Wirkungskreises und damit auch ihrer Bedeutung erfährt, so beginnt um 12 Uhr mittags unerwartet und unerbittlich der Abstieg, der Untergang: "die Umkehrung aller Werte und Ideale des Morgens" (> Enantiodromie) bedeutet. (vgl. Jung, GW 8, § 778) Es bedürfe "höherer Schulen für 40-jährige", so fordert Jung, um die neuen Grundregeln zu lernen: "Wir können den Nachmittag des Lebens nicht nach demselben Programm leben wie den Morgen, denn was am Morgen viel ist, wird am Abend wenig sein und was am Morgen wahr ist, wird am Abend unwahr sein." (Jung, GW 8, § 784) Die erste und schwierigste Lektion wäre nach Jung die Einsicht, dass das Leben sich nicht in einer eindeutig aufsteigenden Linie weiterentfaltet, sondern sich neigt wie die Sonne nach dem Kulminationspunkt um 12 Uhr mittags zu sinken beginnt. Nach Jung stellt sich dies im menschlichen Leben so dar, dass nach der Erreichung des "Naturzwecks" in der ersten Lebenshälfte (> Individuationsprozess: Erste Lebenshälfte) eine Wende erfolge, die nun den bisher ungelebten Teilen der Persönlichkeit das Aufsteigen ins Bewusstsein und in die Verwirklichung ermöglicht. Die Erreichung des sozialen Zieles in der ersten Lebenshälfte sei auch auf Kosten der Totalität der Persönlichkeit erfolgt, wobei allzu vieles Leben, das auch hätte gelebt werden können, ungelebt blieb. Nun gehe es darum, vor allem das eigene > Selbst in vielen seiner Züge, die bisher überhaupt nicht zum Tragen kamen, neu zu entfalten: "Für den alternden Menschen ist es eine Pflicht und eine Notwendigkeit, seinem Selbst ernsthafte Betrachtung zu widmen." (Jung, GW 8, § 785)

Jung setzt seinem Bild erfüllten Alters das klägliche Bild des Jugendwahns entgegen. Der Sinn des Lebensnachmittags liege in der Gewinnung von Kultur, im Sinne einer Zuwendung zum eigenen Selbst, aber auch zu dem größeren Menschheitsselbst und dessen Traditionen. Es gehe in der zweiten Lebenshälfte darum die Kultur der Seele wieder zu entdecken, ihre Sprache, ihre Ausdrucksweise, die nach Jungs Sicht vor allem in den archetypischen Bildern (> Archetyp > Bild) und Symbolen (> Symbol > Unbewusstes) zu finden sind. Leben in der zweiten Lebenshälfte sei Übereinstimmung mit ihnen, Weisheit sei Rückkehr zu ihnen. Zu solchen Urbildern zählt Jung auch die Idee vom Leben jenseits des Todes, die er für einen Lebenswert und einen, der Gesundheit der Seele äußerst zuträglichen, Gedanken hält. Für ihn sei es gesünder, im Tode ein natürliches Ziel zu erblicken als sich dagegen zu sträuben. Die zweite Lebenshälfte gehört zu einer bewussten und vertieften > Individuation, zu der auch eine Kontaktnahme zu dem Archetyp des Alten Weisen oder der Alten Weisen in der eigenen Seele gehört.

Jungs Vorstellung von einer zweiten Lebenshälfte ist auch deshalb innerhalb der Geschichte der > Entwicklungspsychologie relevant, weil sie zu den ersten Konzepten gehört, nach denen die Entwicklung des Menschen nicht nach Jugend und Adoleszenz endet, sondern sich in einem lebenslangen Entwicklungsprozess abspielt: womit Jung eine These der späteren Life-span-Theory vorweggenommen hat.

Literatur: Riedel, I. (1997): Träume - Wegweiser in neue Lebensphasen; Riedel, I. (2000): Die gewandelte Frau.

Autor: I. Riedel