Konstruktivismus

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Keyword: Konstruktivismus

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Definition: Der Konstruktivismus (lat. construere: zusammenschichten, erbauen, errichten; gestalten; zeichnen; bilden; künstlich herstellen) ist in zwei Formen psychologisch relevant: als entwicklungsgeschichtlicher Konstruktivismus und als radikaler Konstruktivismus. Der entwicklungsgeschichtliche Konstruktivismus ist – J. Piaget folgend – der Auffassung, dass sich die kognitive Entwicklung über die Entfaltung formaler Strukturmodelle zunehmender > Komplexität, aber zusammengesetzt aus einem beschränkten Umkreis formaler Basis-Einheiten, erklären lässt.

Der radikale Konstruktivismus ist kognitionspsychologisch (v. Glasersfeld) und neurobiologisch (H. Maturana und F. Varela) begründet, gleichbedeutend mit »second order cybernetics« (> Systemtheorie). Er bildet heute zunehmend die Hintergrundtheorie vieler systemischer Therapiekonzepte (> Familientherapie). Menschen werden als selbstreferenzielle, operativ geschlossene Systeme aufgefasst, d. h. jeder gegebene Input wird vom System autonom, nach dessen selbst Gesetztem verarbeitet. Selbstbezüglichkeit entsteht dadurch, dass sich lebende Systeme durch Autopoiesis (Selbst-Herstellung) von ihrer Umwelt abgrenzen, gemäß dem Modell der Stoffwechsel-Biologie der Zelle. Das bedeutet psychisch: Jedes Subjekt erfährt die Wirklichkeit, die es nach seinen Regeln konstruiert.

Daraus folgt: 1. Ein identischer Input kann bei äußerlich gleichem Systemzustand zu, im Zeitablauf, unwiederholbaren, unterschiedlichen Reaktionen des Systems führen; 2. trotz unterschiedlichen Inputs und äußerlich abweichendem Systemzustand kann sich eine identische Reaktion einstellen; 3. mangels Vorhersagbarkeit der Art und Weise, in welcher der Input prozessiert wird, lässt sich die Reaktionsweise des Systems nicht mehr sicher prognostizieren, es ist keine direkt kontrollierbare Beeinflussung von außen möglich.

Information: Daraus ist folgende therapeutische Konsequenz zu ziehen: der Therapieerfolg ist eine autonome Leistung des Patienten, die zwar durch eine therapeutische > Intervention induziert wird, ohne dass sich jedoch konkret vorhersagen lässt, welche Richtung die Neu-Organisation des Patienten annehmen wird. An die Stelle theoriegeleiteter Interventionsformen, bei denen dem Patienten die Übernahme der vom Therapeuten entwickelten Modelle (> Deutung) nahe gelegt wird, tritt ein »strategischer « Ansatz, der vor allem darauf zielt, die bisherigen Operationsweisen des Patienten zu stören und so eine Reorganisation des Patienten zu induzieren. Statt »Wahrheit« wird »Viabilität «, d. h. »Gangbarkeit« bzw. Zweckdienlichkeit angestrebt.

C. G. Jung hat konstruktivistische Ansätze in vielerlei Hinsicht vorweggenommen, beispielsweise in seiner Betonung einer symbolischen Einstellung (> Einstellung, symbolische) und der Wirklichkeit des Psychischen (> Wirklichkeit, psychische) als der einzigen Wirklichkeit, zu der das menschliche > Bewusstsein Zugang hat. Zum Wesen der Dinge selbst könne das Bewusstsein überhaupt nicht vordringen. Alles, was man jemals wissen könne, sei durch den bildgestaltenden (> Bild) Prozess der Psyche gegangen. Die Psyche sei deshalb das allerrealste Wesen, weil sie das einzig unmittelbar erfahrbare sei.

»Wir denken nämlich theoretisch viel zu wenig und praktisch sozusagen nie daran, dass das Bewusstsein überhaupt in keiner direkten Beziehung zu irgendwelchen materiellen Objekten steht. Wir nehmen nur Bilder wahr, die uns indirekt durch einen komplizierten nervösen Apparat vermittelt sind. Zwischen die Nervenenden der Sinnesorgane und das dem Bewusstsein erscheinenden Bild ist ein unbewusster Prozess eingeschaltet, der die physische Tatsache eines Lichtes zum Beispiel in das psychische Bild ›Licht‹ verwandelt. Ohne diesen komplizierten und unbewussten Verwandlungsprozess kann das Bewusstsein überhaupt nichts Materielles wahrnehmen … Dem Psychischen allein kommt unmittelbare Realität zu, und zwar jeglicher Form des Psychischen, selbst den ›unrealen‹ Vorstellungen und Gedanken, die sich auf kein ›Außen‹ beziehen. … Unsere hochgepriesene Vernunft und unser maßlos überschätzter Wille erweisen sich gegebenenfalls als machtlos gegenüber dem ›unrealen‹ Gedanken. Die Weltmächte, welche die gesamte Menschheit auf Gedeih und Verderb regieren, sind unbewusste psychische Faktoren … Wir sind überwältigt von einer Welt, welche durch unsere Seele geschaffen wurde. « (Jung, GW 8, § 745 f.)

Aus diesem konstruktivistischen Verständnis heraus wird auch deutlich, weshalb die Archetypen (> Archetyp) und archetypischen Symbole (> Symbol) in der Analytischen Psychologie eine so entscheidende Rolle spielen: Sie haben in der Seele des Einzelnen wie auch in der > Kollektivpsyche eine wirklichkeitserschaffende Wirkung, sie erzeugen Mythen, Weltbilder, politische Ideen, Moden, Trends, den »Zeitgeist« und auch wissenschaftliche Denkweisen und Schwerpunkte des Forschens (> Unbewusstes, kollektives > Bewusstsein, kollektives): »Alle stärksten Ideen und Vorstellungen der Menschheit gehen auf Archetypen zurück. Besonders ist dies bei religiösen Vorstellungen der Fall. Aber auch wissenschaftliche, philosophische und moralische Zentralbegriffe machen davon keine Ausnahme. Sie sind in ihrer gegenwärtigen Form durch bewusste Anwendung und Anpassung entstandene Varianten der Urvorstellungen, denn es ist die Funktion des Bewusstseins, nicht nur die Welt des Äußeren durch die Sinnespforten aufzunehmen und zu erkennen, sondern auch die Welt des Inneren schöpferisch in das Außen zu übersetzen.« (Jung, GW 8, § 342)

Literatur: Glasersfeld, E. v. (1996): Radikaler Konstruktivismus; Schlippe, A. v., Schweitzer, J. (1996): Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung; Watzlawick, P. (Hrsg.) (1981): Die erfundene Wirklichkeit; W. Pätzold, H. M. Emrich, L. Müller??Titel

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