Pränatale Psychologie
Keyword: Pränatale Psychologie
Links:> Bewusstseinszustände, veränderte > Regression > Säuglingsforschung > Urbeziehung > Uroboros
Definition: Pränatale Psychologie (lat. prä: vor, voran, lat. natus: geboren) ist ein Teilgebiet der Entwicklungspsychologie und untersucht das Erleben und Verhalten des ungeborenen Kindes in der Embryonal- und Fötalzeit. Allgemein wird davon ausgegangen, dass psychische Einflüsse von der schwangeren Mutter und ihrer psychischen Situation, ihrer sozialen und ökologischen Umwelt auf das Kind im Mutterleib einwirken und Auswirkungen auf das nachgeburtliche Leben und die Entwicklung der psychischen Struktur des Menschen haben.
Information: Die Ergebnisse der neueren empirischen Säuglingsforschung lassen eine differenziertere Konzeptualisierung der frühen und frühesten Schritte psychischer Entwicklung zu, als dies früher möglich war. Insbesondere die Ergebnisse, die den frühesten postnatalen psychischen Innenhorizont betreffen, sind für die Aussagen zu den pränatalen, fetalen psychischen Ereignissen von großer Relevanz. Die Ergebnisse legen nahe, dass am Anfang der individuellen Entwicklung ein präpsychischer oder protopsychischer (griech. protos: das erste, uranfänglich), höchstens von Psychismen gekennzeichneter Entwicklungszeitraum besteht, der zumindest mit großen Anteilen bis in die erste postnatale Zeit hineinragt. (> Urbeziehung) Diese Beobachtungen stimmen mit den entwicklungspsychologischen Ergebnissen von M. Mahler und E. Neumann überein, die eine symbiotisch-autistische oder pleromatische Phase (> Entwicklungspsychologie > Pleroma) beschreiben.
Der "kompetente Säugling" - ein modernes Schlagwort der Säuglingsforschung - entwickelt sich erst im Anschluss daran. Folgerungen der pränatalen Psychologie der ersten Stunde, dass psychische Funktionen, die nachgewiesenermaßen erst nachgeburtlich auftreten, bereits während des intrauterinen Lebens als fetale Fähigkeiten oder fetale Psychismen (vgl. Graber/ Kruse, 1973, S. 90f]]) arbeiten, sind von den Ergebnissen der Säuglingsforschung her nicht nachzuweisen, auch nicht ein "fetales Ich" als Wahrnehmungsorgan. Bei diesen Annahmen wird von einer differenzierten Organisiertheit des fetalen psychischen Lebens ausgegangen, während der psychische Status des Fetus aber mit großer Wahrscheinlichkeit durch eine vor-ichhafte Unbewusstheit gekennzeichnet ist. Ebenso problematisch ist es, bei der "fetalen Psyche" von komplizierten psychischen Strukturen und Dynamismen, von Abwehrmechanismen und psychodynamischer Kompetenz auszugehen (vgl. Schulz-Klein, 2000 S. 264, S. 281f). Gegenüber solchen, nach heutigem Kenntnisstand der Säuglingsforschung überinterpretierten Vorstellungen, sind die der Zeitgenossen Jungs gemäßigter. C. G. Jung ist gegenüber intrauterinen psychischen Erfahrungen skeptisch gewesen (vgl. Jung, Briefe 2, S. 383). Intrauterine Regressionen hält er nicht für Wiederbelebungen oder Erinnerungen, die einen psychischen Zustand zum Inhalt haben, der wirklich in der frühesten individuellen Biografie bestanden hat, sondern für ein erinnerndes Eintauchen in die Kollektivpsyche. Gesichert scheint: Die intrauterine Entwicklungsperiode ist eine Zeit intensiver Prägung, die sich entscheidend auf die späteren Ausgestaltungen der Psyche auswirkt. Es besteht auch durchaus die Möglichkeit, dass in therapeutischen Regressionen und in veränderten Bewusstseinszuständen (> Bewusstseinszustände, veränderte > Psycholyse) im Extremfall früheste, recht unspezifische, mehr oder weniger vage, protopsychische Repräsentationen psychisch überlagert oder ausgestaltet werden. Diese dürfen aber nicht als Rekonstruktionen des "Originalschauplatz Uterus" interpretiert werden. Es scheint fraglich, ob die Sprache und das dem Bewusstsein - wenn auch in regressiven Zuständen - zugängliche Denken und Erinnern in der Lage sind, Aussagen über diesen Erfahrungsraum zu machen.
Literatur: Graber, H., Kruse, F. (1973): Vorgeburtliches Seelenleben; Janus, L. (1991): Wie die Seele entsteht: Unser psychisches Leben vor und nach der Geburt; Schulz-Klein, H. (2000): Psyche und Psychifikation.
Autor: H. Schulz-Klein