Trauer

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Keyword: Trauer

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Definition: Die > Emotion Trauer drückt aus, dass man etwas verloren hat, was einen zentralen Wert dargestellt hat. Wenn man sich dieser Emotion überlässt, setzt ein psychischer Prozess ein, der beschrieben werden kann als ein Prozess der Ablösung und der neuen Selbstfindung. In einem Trauerprozess löst sich ein Mensch von einem Menschen, den er verloren hat, so ab, dass er oder sie freigegeben werden kann. Die Erinnerung an die gemeinsame Zeit und an das, was durch die Beziehung gewachsen ist, kann neu belebt werden. Man organisiert sich also von einer Beziehungsidentität (> Beziehung) auf die individuelle Identität (> Identität, personale) zurück. Weil Menschen sich aufeinander einlassen, sich aneinander binden, einander teilnehmen lassen an ihrem Leben, sich lieben, bedeutet jeder Verlust auch eine große Beeinträchtigung des Selbst - und Weltverständnisses (> Ehe > Paar). Diese Identitätskrise (> Krise) steht am Beginn der Trauerarbeit. Der Trauerprozess verläuft nach einer gewissen Typik. Abweichungen davon haben mit dem jeweiligen Umgang mit Trennung zu tun, mit der Beziehung, die man mit dem verstorbenen Menschen gehabt hat, mit der Art des Todes usw.

Information: Die erste Phase: Nicht-Wahrhaben-Wollen. Die Nachricht vom Tod eines nah verbundenen Menschen versetzt in einen Schock, auf dem man mit]] > [[Abwehr reagiert: es kann nicht wahr sein, weil es nicht wahr sein darf. Der Anblick des Leichnams erinnert daran, dass der Tod wirklich eingetreten ist.

Die zweite Phase: Aufbrechen chaotischer Emotionen: Nach außen wirken Menschen in dieser Phase als von Gefühlsstürmen übermannt; sie weinen, sind zornig, zeigen Angstausbrüche, beteuern die Liebe zum Verstorbenen, wollen diese oder diesen sofort zurückhaben, klagen das Leben an, Gott, die Mitmenschen. Sie leiden unter]] > [[Schuldgefühlen, suchen vielleicht Sündenböcke. Verschiedene auch widersprüchliche Emotionen werden fast gleichzeitig erlebt: etwa Wut (> Aggression > Hass) auf den Verstorbenen und Liebesgefühle für ihn. Diese Phase ist schwer zu ertragen, besonders wenn die Selbstkontrolle ein hoher Wert ist und man stolz ist, Gefühle kontrollieren zu können. In dieser Situation ist das kaum mehr möglich. Der Fortgang der Trauer arbeit hängt wesentlich davon ab, ob es gelingt, die verschiedenen emotionalen Färbungen der Trauer zuzulassen und auszudrücken. In dieser Phase sind Trauernde auch körperlich labil: Appetitlosigkeit, Schlafstörungen, Unruhe oder Apathie, eine höhere Anfälligkeit für Infekte können beobachtet werden. Ein Gefühl der endgültigen Trennung wird erlebt, man selber fühlt sich fragmentiert. Das Zulassen und das Ausdrücken der verschiedenen Emotionen führen in die Phase der Trauerarbeit im engeren Sinne.

Die dritte Phase: Phase des Suchens, Findens und Sichtrennens. Das Leben, das man miteinander gelebt hat, ersteht in der Erinnerung wieder auf. Das gelingt, indem man Geschichten aus dem gemeinsamen Leben erzählt, indem man - nicht zuletzt auch mithilfe der Träume - herausfindet, welche eigenen Probleme man dem Partner oder der Partnerin angelastet hat, aber auch, welche Lebensmöglichkeiten durch das Leben mit diesem Partner oder dieser Partnerin im eigenen Leben zum Tragen gekommen sind. Was ein Mensch geweckt hat, das gehört zum eigenen, und das muss man nicht verloren geben, auch wenn der Mensch, der diese Seiten - gute und böse - herausgeliebt hat, gestorben ist. In diesen Lebensmöglichkeiten, die durch das Zusammenleben mit dem Partner oder der Partnerin, zu eigenen geworden sind, lebt ein verstorbener Mensch durch den Zurückbleibenden und mit ihm weiter. Es findet eine Wiederannäherung an den Verstorbenen statt. Dieser, und auch die Beziehung zu ihm, wird idealisiert (> Idealisierung). Nach einiger Zeit, auch durch die Erfahrung der Abwesenheit dieses idealen Menschen im Alltag, setzt die Wiederannäherungskrise ein, die Raum schafft für problematische Erinnerungen. Der Prozess der > Integration von Persönlichkeitsaspekten, der durch die Beziehung möglich geworden ist, verbunden mit der Trennung vom Verstorbenen, der so nach und nach ein Toter werden kann, kann nun stattfinden. Der Prozess von Erinnern und Vergessen führt einen wieder auf das eigene Leben hin, auf das noch Ausgesparte, auf die eigenen Ressourcen.

Die vierte Phase: Phase des neuen Selbst- und Weltbezugs. Die Menschen erleben, dass sie wieder Mut haben, sich auf das Leben, auch auf Beziehungen, wieder einzulassen. Nicht selten bleibt noch die Aufgabe, den Schmerz zu opfern (> Opfer; viele Menschen kommen sich treulos vor, wenn sie einfach wieder weiterleben. Sie meinen, den Schmerz behalten zu müssen als Ersatz sozusagen für den verstorbenen Menschen. Viele Träume, die sich mit der Frage der Treue einem Verstorbenen gegenüber auseinandersetzen, geben letztlich die Botschaft: Man muss nicht den Toten treu bleiben, sondern dem Leben, dann ist man den Verstorbenen am meisten treu. Ist so ein Trauerprozess durchgestanden - er wird immer einmal wieder, allerdings in immer abgekürzterer Form, zu wiederholen sein, dann nämlich, wenn einen das Gefühl des Verlusts auch noch nach Jahren, erneut übermannt - dann hat der Trauernde einen neuen Bezug zu sich selbst. Er oder sie hat sich selbst neu gefunden, und weiß auch um Beziehungseigentümlichkeiten und um Beziehungssehnsüchte. Er oder sie hat gelernt, dass der Trauerprozess ein sehr harter, emotional sehr fordernder Prozess ist, dass er einen aber nicht umbringt. Er kann auch von einer geradezu eigentümlichen Lebendigkeit sein und zu einem neuen Selbstverständnis, zu einem neuen Identitätserleben führt. Zu einer bleibenden > Krise wird ein Verlust dann, wenn ein Mensch zu wenig das eigene > Selbst gelebt hat, sich den Selbstwert (> Selbstwertgefühl) zu sehr von dem Menschen hat geben lassen, der gestorben ist, wenn also auch im Zusammenhang damit eine Problematik im Bereich des Selbstwerts besteht.

Keine

Literatur: Bowlby, J. (1982): Das Glück und die Trauer; Kast, V. (1982): Trauern; Kast, V. (2000]]): Lebenskrisen werden Lebenschancen

Autor: V. Kast