Prozessorientierte Psychologie: Unterschied zwischen den Versionen

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Aktuelle Version vom 20. Juli 2024, 12:02 Uhr

Keyword: Prozessorientierte Psychologie / Prozessarbeit

Links: > Feld, psychisches > Imagination > Körper > Mundus imaginalis > Symbol > Traum

Definition: Die prozessorientierte Psychologie oder Prozessarbeit (lat. Prozedere: vorwärtsgehen, voranschreiten, vorangehen, entwickeln, ablaufen) - 1982 von Arnold Mindell begründet - geht davon aus, dass nicht nur die Träume eine via regia zum Unbewussten darstellen, sondern auch Körpersignale, Synchronizitäten aus der Umwelt und sämtliche verbalen und nicht verbalen Signale, mit denen sich ein Mensch oder eine Gruppe nicht identifizieren. "Je stärker mein Interesse an Träumen wurde, desto klarer wurde mir, dass nicht die Träume mich faszinierten, sondern der Traumprozess als solcher, kurz gesagt <<der Prozess>>." (Mindell, 2000) Durch das Aufgreifen und Entfalten (Amplifizieren > Amplifikation) aller verbalen und nonverbalen Signale des therapeutischen Prozesses ist ein vielschichtiger Zugang zum Unbewussten möglich. Wie bei der Traumarbeit kann so Kontakt mit dem Hintergrundprozess aufgenommen werden, der diese Signale aussendet. Diesen Prozess zu erkennen und zu entfalten, ihm zu folgen und sich mit ihm auseinanderzusetzen ist der Schwerpunkt der prozessorientierten Arbeitsweise.

Information: Einige zentrale Begriffe und Vorgehensweisen der Prozessarbeit sind: Amplifikation; Geisterrollen; Grenze; Meta-Fähigkeiten; Prozessdynamik; Traumkörper; Weltarbeit..

1. Amplifikation: Der Ausdruck wird heute u. a. von der prozessorientierten Psychologie im Sinne des lateinischen Wortes amplificare allgemein gebraucht für Verstärkung, Vergrößerung, Erweiterung. Amplifizieren bezeichnet so das Verstärken und Entfalten von Signalen, z. B. Körpersignalen (> Körper > Körperpsychotherapie), um in Kontakt mit dem dahinter liegenden > Sinn zu kommen.

2. Geisterrollen: Dieser Ausdruck aus der prozessorientierten Psychologie bezeichnet archetypische Rollen (> Archetyp) in Gruppen (> Gruppenpsychotherapie > Kollektiv), welche in der betreffenden Gruppe nicht direkt repräsentiert sind, sondern nur häufig erwähnt werden oder als Projektion auf andere auftauchen (z. B. der Verfolger, das Opfer, das Kind). Das Erkennen und Aufgreifen von Geisterrollen hilft der Gruppe, sich zu entwickeln und ihre Probleme zu lösen.

3. Grenze: Mit Grenze wird die Unfähigkeit oder Unlust bezeichnet, zusätzlich zu den Signalen aus der vertrauten Perspektive unserer Identität auch darüber hinausgehende Signale wahrzunehmen und aufzugreifen. Die Grenze entsteht üblicherweise durch subtile Vorurteile (> Abwehrmechanismus} gegenüber gewissen Erfahrungen und Verhaltensweisen, welche unserer persönlichen Überzeugung oder den kollektiven Normen der jeweiligen Gruppe oder Kultur nicht entsprechen. Das Leiden unter den Auswirkungen persönlicher und kollektiver Grenzen ist oft der Grund für den Entschluss, sich in eine Psychotherapie zu begeben. Das Erkennen und Bearbeiten von persönlichen Grenzen oder Gruppengrenzen schafft Zugang zu neuen, bisher nur als störend empfundenen Möglichkeiten und führt zu mehr Offenheit und Fluidität.

4. Meta-Fähigkeiten oder Metaskills bezeichnet in der prozessorientierten Psychologie die Gefühlseinstellung oder den persönlichen Stil, mit welchen das professionelle Wissen und schulspezifische Techniken eingesetzt werden. Meta-Fähigkeiten sind z.B. Humor, Mitgefühl (> Empathie), Verspieltheit oder innere Ruhe. Meta-Fähigkeiten können studiert und bis zu einem gewissen Grad auch unterrichtet werden.

5. Prozessdynamik: Zur Beschreibung der Prozessdynamik arbeitet die Prozessarbeit nicht mit den tiefenpsychologischen Begriffen bewusst (> Bewusstsein) und unbewusst (> Unbewusstes). Sie verwendet den Begriff "primär" für den im Moment bewusstseinsnähreren Teil des Informationsflusses und den Begriff "sekundär" für die im Moment bewusstseinsferneren Teile desselben. Die Einführung dieser neuen Terminologie beruht auf der Beobachtung, dass einerseits auch der bewusste Teil dessen, was ein Mensch kommuniziert, unbewusstes Material enthält. Eine Aussage "Ich bin Herr X. " bedeutet z.B. nicht immer, dass das Mannsein im Moment zum bewussten Teil der Persönlichkeit gehört. Andererseits gibt es auch im "unbewussten" Teil der Signale eines Menschen (z.B. im Koma) einen bewusstseinsnäheren und einen bewusstseinsferneren Teil. Diese Betrachtungsweise erweitert die Möglichkeiten, mit der Dynamik des Informationsflusses zu arbeiten.

6. Traumkörper („Dreambody“] ist von A. Mindell als Konzept formuliert worden nach seiner Entdeckung, dass sich bei amplifikatorischer Entfaltung Körpersymptome, Träume und Synchronizitäten entsprechen, d.h. Teile des gleichen Inhalts ausdrücken. Der Traumkörper kann als Feld (> Feld, psychisches) verstanden werden, das die Summe aller Signale eines Prozesses enthält. Im Traumkörper eines Menschen oder einer Gruppe sucht die Prozessarbeit die Informationen, welche für eine Weiterentwicklung zur > Ganzheit, > Individuation) wichtig sind. Durch Traumkörperarbeit ergeben sich Möglichkeiten, bisher nicht wahrgenommene Teile des jeweiligen Prozesses aufzugreifen. Der Traumkörper hat als Feld eine raumzeitlose Qualität und alle seine Teile wirken akausal aufeinander ein, deshalb sind auch die Wirkungen von Traumkörperarbeit nicht nur kausal-linear begrenzt.

7. Weltarbeit: Dieser Ausdruck bezeichnet in der prozessorientierten Psychologie eine bestimmte Art, mit Gruppen und Großgruppen an ihren politischen, institutionellen und kollektiven Themen zu arbeiten. Wichtigste Grundlage dafür ist das Prinzip der tiefen Demokratie. Diese Haltung nimmt alle Teile eines Feldes gleich wichtig und weiß, dass auf keinen verzichtet werden kann. Ebenso wird auf die Gleichwertigkeit der Kommunikationsstile geachtet. Zudem werden alle im Feld vorhandenen Informationen (auch verbal nicht formulierbare Erfahrungen, heftige Gefühle, Körperreaktionen und Träume) in die Arbeit einbezogen. Auf globaler Ebene setzt sich die prozessorientierte Weltarbeit in international gemischten Gruppen mit Themen wie wirtschaftliche und strukturelle Ungerechtigkeit, Rassismus, Sexismus, Homophobie und Marginalisierung auseinander. Auf lokaler Ebene werden vergleichbare Themen der jeweiligen Gruppe aufgegriffen und falls möglich bearbeitet. Prozessarbeit wird mit Individuen, Gruppen, Organisationen und Großgruppen angewendet und weiterentwickelt. Heute ist die Prozessarbeit in vielen Ländern vertreten, in Zürich und Portland/USA existieren Ausbildungszentren.

Keine

Literatur: Mindell, A. (1993): Traumkörper-Arbeit oder der Lauf des Flusses; Mindell, A. (1997): Mitten im Feuer; Mindell, A. (1998): Die Weisheit der Gefühle

Autor: U. Hohler