Filialisierung des Ich: Unterschied zwischen den Versionen
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Version vom 20. Juli 2024, 12:02 Uhr
Keyword: Filialisierung des Ich
Links: > Bewusstsein > Bewusstseinsentwicklung > Ich/Ich-Bewusstsein > Ich-Komplex > Kindheit/Kindheitsphasen > Selbst
Definition: Filialisierung des Ich (lat. filialis: kindlich (abhängig), zu lat. filius: Sohn oder filia: Tochter: Zweigstelle, kleineres Unternehmen, das zu einem größeren gehört) ist ein Begriff, den E. Neumann prägte, um die Beziehung zwischen dem > Selbst und dem Ich (> Ich/Ich-Bewusstsein) und die Entstehung der > Ich-Selbst-Achse bildhaft zu beschreiben. Er versucht damit zu veranschaulichen, dass das Ich-Bewusstsein sich aus dem Selbst heraus und zugleich durch das Selbst bzw. die Wirkung der > Zentroversion differenziert. Das Selbst bildet sich im Ich eine Filiale, die seine Interessen gegenüber der Innen- wie der Außenwelt wahrnimmt.
Information: Das Ich ist als „Ich-Keim“ oder Ich-Kern von Anfang an angelegt und beginnt sich während der Phase der > Urbeziehung zu entwickeln. Die Phase, in der sich das Ich und damit das Bewusstsein noch aus ihrer Keimhaftigkeit heraus entwickeln, bezeichnet Neumann als „Vor-Ich-Zeit“. In dieser Zeit sind Psyche, Körper und Welt noch nicht voneinander zu trennen, also auch nicht das Selbst der Mutter und des Kindes, und in dieser Phase der Urbeziehung sieht Neumann noch keine Gegensatz-Spannung zwischen Ich und Selbst. Die Beziehung zwischen dem Ich und dem Selbst als ein Gegenübersein und Miteinandersein anstatt eines Enthalten seins entwickelt sich seiner Vorstellung nach aus dem Erleben der Beziehung zwischen Mutter als Selbst und Kind als Ich. Die endgültige Geburt des Kindes am Ende der post-embryonalen Entwicklung lässt das Kind als Individuum mit einem eigenständig auf die, ihm gegenüberstehende, Welt (und das heißt auch Mutter) reagierenden Ich und einem Ganzheits-Selbst erscheinen. Die Beziehung zwischen dem Ich und dem Ganzheits-Selbst prägt das Funktionieren der Psyche und des Seins in der Welt und wird > Ich-Selbst-Achse genannt: „Wir sprechen von einer Ich-Selbst-Achse, weil die psychischen Entwicklungen und Prozesse zwischen den Systemen Bewusstsein und Unbewusstes und den ihnen entsprechenden Zentren Ich und Selbst sich so darstellen, als ob die beiden Zentren und Systeme sich voneinander entfernen und sich einander annähern. Die Filialisierung des Ich vom Selbst ist dabei mit der Entstehung der Ich-Selbst-Achse und mit einer Entfernung des Ich vom Selbst identisch.“ (Neumann, 1963, S. 51) Die „Entfernung“ zwischen dem Selbst und seiner Filiale Ich ist sowohl in jeder Lebenssituation wie auch in den Lebensphasen unterschiedlich. Geringer ist sie z. B. während einer entspannten Tätigkeit oder auch während des Fantasierens (> Fantasie), Träumens, Schlafens, weiter während einer konzentrierten Tätigkeit. Jede Bewusstseinsveränderung (> Bewusstseinszustände, veränderte) z. B. während eines schöpferischen Prozesses, in der religiösen > Ekstase oder im Rausch-Zustand, ist eine Veränderung der Ich-Selbst-Achse. Das Ich löst sich aber bei Annäherung an das Selbst nicht auf, sondern wird von der > Ganzheit des Selbst sozusagen aufgenommen: „Die Grundlage dieser psychischen Konstellation ist eine Verschiebung auf der Ich-Selbst-Achse in dem Sinne, dass das Ich ins Selbst zurückgenommen und das übliche ichzentrierte Bewusstsein suspendiert worden ist.“ (Neumann, 1963, S. 53). Für solche bewusstseinsverändernden Prozesse ist es von zentraler Bedeutung, dass aus einer positiven > Urbeziehung ein positives Ganzheits-Selbst und damit untrennbar verbunden eine stabile Ich-Filiale (> Ich, integrales) entsteht. Wenn dies nicht der Fall ist, kann die kompensatorische Funktion (> Kompensation) des ganzheitlichen Selbst nicht mehr regulierend wirken. Dann bekommt das Unbewusste einen störenden, dämonischen, zerreißenden Charakter und das Ich einen rigiden und ängstlichen: Selbst und Ich können sich dann nicht mehr vertrauensvoll annähern und voneinander entfernen (> Funktion, transzendente).
Die Diskussion der Begriffe Ich und Selbst spielt auch in der neueren psychoanalytischen Diskussion und in der Säuglingsforschung (> Säuglingsforschung: Entwicklung der > Säuglingsforschung: Ergebnisse der) eine große Rolle. Der Selbstbegriff wird in dieser Diskussion aber z. T. sehr unterschiedlich verwendet. Einen wichtigen Überblick und eine fundierte Auseinandersetzung über die unterschiedlichen Konzepte hat M. Jacoby geleistet.
Literatur: Neumann, E. (1963): Das Kind; Jacoby, M. (1985): Individuation und Narzissmus; Jacoby, M. (1998): Grundformen seelischer Austauschprozesse.
Autor: A. Müller