Integrative Psychologie/Psychotherapie

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Keyword: Integrative Psychologie/Psychotherapie

Links: > Allgemeine Psychotherapie > Coniunctio/Mysterium Coniunctionis > Einheitswirklichkeit > Ganzheit > Ich, integrales > Integrale Psychologie > Komplexe Psychologie > Polarität > Psychotherapie, analytische > Synthese

Definition: In Philosophie und Psychologie (wie natürlich auch in den anderen Wissenschaften) hat es schon immer Versuche gegeben, die jeweils verschiedenen, oft dual (> Dualität) oder polar (> Polarität) sich (scheinbar) widersprechenden Theorien und Methoden miteinander zu einem größeren Ganzen zu verbinden (> Integration).

Information: Die > Analytische Psychologie ist, ihrem ganzen Ansatz nach, schon immer eine integrative Psychologie und Psychotherapie gewesen. Dies zeigt sich praktisch in allen ihren Grundvorstellungen, z. B. im Prinzip der > Einheit und > Ganzheit des Menschen, im Prinzip der Polarität und der schöpferischen Spannung und Dynamik zwischen den Polaritäten, in der gegensatzverbindenden transzendenten Funktion (Funktion, transzendente), in der umfassenden Bedeutung der Bilder, Fantasien und Symbole, in denen sich die archetypischen und transpersonalen Dimensionen menschlichen Erlebens und Verhaltens darstellen, und schließlich in der Hypothese des > Selbst mit ihrem polaritätsvereinigendem Charakter. C. G. Jung hat schon 1916 den Gegensatz Freud-Adler u. a. als eine Frage einer mehr extravertierten oder einer mehr introvertierten Einstellung aufgefasst und versucht, diese beiden Ansätze synthetisch zu verbinden und durch die religiöse Dimension zu erweitern. Auch behandlungstechnisch war er integrativ orientiert, wie man an seiner Anwendung imaginativer, gestalterischer und kreativer Methoden in der Therapie (> A-H-System) und an vielen Äußerungen sehen kann:

"Da jedes Individuum eine neue und einzigartige Kombination psychischer Elemente bildet, so muss die Erforschung der Wahrheit mit jedem Fall neu einsetzen, denn jeder "Fall" ist individuell und nicht ableitbar aus irgendwelchen allgemeinen und vorausgesetzten Formeln. Jedes Individuum ist ein neues Experiment des immer wechselnden Lebens und ein Versuch zu einer neuen Lösung und einer neuen Anpassung. Wir würden den Sinn einer individuellen Psyche verfehlen, wenn wir sie auf der Basis vorgefasster Meinungen deuteten, wie sehr wir auch dazu neigen mögen." (Jung, GW 17, § 173) und: "Der Patient ist nämlich dazu da, um behandelt zu werden, und nicht, um eine Theorie zu verifizieren. Es gibt keine Theorie im weiten Felde der praktischen Psychologie, die nicht gegebenenfalls grundfalsch sein kann." (Jung, GW 16, § 237) Für Jung stand also nicht eine vorgefasste Theorie oder Methode im Mittelpunkt der Therapie, sondern ganz allein das, was der individuellen Persönlichkeit des Patienten und dessen > Selbstregulation entsprach.

Als der erste größere Versuch zur Integration verschiedener psychotherapeutischer Schulen kann die Arbeit der, 1936 von der Schweizer Gesellschaft für Psychiatrie eingesetzten, Kommission gelten, welche Grundideen und gemeinsame Gesichtspunkte formuliert und deren Präsident Jung gewesen ist (vgl. Huber 1999). Im deutschsprachigen Raum sind es dann insbesondere W. Bitter (1972), der sich schon früh um eine synoptische Psychotherapie bemüht und L. Pongratz (1973), der einen synthetischen, aspektivischen Ansatz unterstützt hat. Ab den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts ist es dann vor allem H. Petzold, der den Austausch zwischen den verschiedenen Therapieschulen fördert und den Gedanken der integrativen Psychotherapie in Deutschland nachhaltig verbreitet. Das > Pentaolon-System ist ein Versuch aus dem Bereich der Analytischen Psychologie, die verschiedenen therapeutischen Richtungen unter dem Blickwinkel archetypischer Prinzpien (Bios, Logos, Heros, Eros, Mystos) zu sehen und zu einem integrativen Konzept zu verbinden (Müller, 1995, 2001).

Wesentlich ist wohl, dass die verschiedenen therapeutischen Richtungen in ihrer polaren Spannung und einem gegenseitigen Ergänzungsverhältnis gesehen werden. Es mag vielleicht einfacher ("sauberer, wissenschaftlicher, analytischer“) erscheinen, mit einem Konzept und einer daraus abgeleiteten Behandlungsmethodik den verschiedenen Seiten der menschlichen Persönlichkeit therapeutisch gerecht werden zu wollen. In Wirklichkeit ist dies aber viel schwieriger, wenn nicht sogar unmöglich, weil sich der Patient in einem einseitigen theoretischen Konzeptrahmen nicht wirklich verstanden und gefördert fühlen kann. Auch Fragen der > Abwehr und des Widerstandes (> Widerstand) müssen unter dem Gesichtspunkt der Vielschichtigkeit und Komplexität der Individualität sehr differenziert gesehen werden. Da grundsätzlich alles zum Widerstand werden kann und sowohl Therapeuten und Patienten Widerstand gegen das Andere und Neue des psychischen Prozesses leisten können, ist immer die Frage zu stellen: Wer setzt welchem Aspekt des psychischen Lebens und der psychischen Ganzheit welchen Widerstand entgegen? In vielen Fällen muss wohl davon ausgegangen werden, dass der Widerstand vom Therapeuten kommt und sich der Patient zu Recht einer bestimmten Methode verweigert, wenn sie ihm nicht entspricht.

Das Ziel einer integrativen Ausbildung ist nicht nur eine größerer Variabilität in der Methodenwahl anzuwenden, sondern auch die Entwicklung eines Bewusstseins, das von der > Komplexität der menschlichen Psyche weiß. Dazu kommt, sich der Notwendigkeit vielfältiger Erfahrungs- und Beziehungsdimensionen für die Reifung und Heilung des Menschen bewusst und gleichzeitig offen und bereit zu sein, sowohl die einzelnen biologischen, sozialen und psychischen, sich ergänzenden und komplementierenden Aspekte des menschlichen Organismus zu sehen, als auch auszuhalten, dass das Gesamtsystem - das Selbst - immer größer und komplexer sein wird, als der Einzelne wird jemals erfassen können.

Literatur: Bitter, W. (1972): Freud, Adler, Jung; Müller, L. (1995): Überlegungen zu einer analytisch-integrativen Psychotherapie; Müller, L. (2001): Lebe dein Bestes; Petzold, H. (Hrsg.) (1993): Integrative Psychotherapie; Pongratz, L. (1973): Lehrbuch der Klinischen Psychologie; Senf, W., Broda, M. (1996): Praxis der Psychotherapie.

Autor: L. Müller