Differenzierung

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Keyword: Differenzierung

Links: > Dissoziation > De(s)integration > Individuation > Integration > Prozess, dialektischer > Synthese

Definition: Differenzierung (lat. differo: verschieden sein, sich unterscheiden; Unterscheidung, Sonderung, Abweichung) bezeichnet jenen Aspekt aller dynamischen Systeme, durch den sich Unterschiede entwickeln, indem sich eine ursprüngliche Einheit und > Ganzheit (> Holon) in Teilaspekte aufgliedert, die sich dann wiederum zu einem komplexeren (> Komplexität) System zusammenfügen (> Integration). Differenzierung und Integration sind zwei sich ergänzende, fundamentale Polaritäten (> Polarität) aller evolutionärer, wachsender und sich entwickelnder Organismen. Differenzierung erzeugt Neuartigkeit und Vielgestaltigkeit, während die Integration für die Stabilität, den Zusammenhalt und das schöpferische Zusammenspiel der einzelnen Teilelemente sorgt.

Information: Gelingt die Integration nicht, wird die Differenzierung zur > Dissoziation, welche nach Auffassung der Analytischen Psychologie (> Analytische Psychologie) ein wesentlicher Aspekt psychischer Störungen ist. Der fortwährende Prozess von Differenzierung und Integration läuft sowohl unbewusst als auch als ein bewusst begleiteter Vorgang ab, beispielsweise in jeder > Analyse, in jedem Prozess der Selbsterfahrung, der Ich-Bewusstseinsentwicklung, der Identitätsfindung (> Identität), der > Kreativität und der > Individuation. Bewusstsein und Individualität können sich nur herausbilden, wenn eine ausreichende Unterscheidung von unbewussten und kollektivpsychischen Vorgängen möglich ist (> Bewusstsein, kollektives > Kollektivpsyche > Unbewusstes > Unbewusstes, kollektives). Somit lässt sich > Individuation auch als fortwährender Differenzierungs- und Integrationsprozess beschreiben, durch den Unbewusstes bewusst, Kollektives individualisiert, Undifferenziertes differenziert und zu einer höheren > Ganzheit verbunden wird („solve et coagula“ lat.: löse und verbinde (> Alchemie)). Der Grad der Differenziertheit einer > Persönlichkeit kann auch als ein Maß ihrer Bewusstheit angesehen werden.

C. G. Jung verwendet den Begriff der Differenzierung häufig auch im Zusammenhang mit den > Orientierungsfunktionen. “Solange eine Funktion noch dermaßen mit einer oder mehreren anderen Funktionen verschmolzen ist, z. B. Denken und Fühlen, oder Fühlen und Empfindung usw., dass sie für sich allein gar nicht auftreten kann, so ist sie in archaischem [...] Zustand, sie ist nicht differenziert, d. h. nicht als ein besonderer Teil vom Ganzen ausgeschieden und als solcher für sich bestehend. Ein nicht differenziertes Denken ist unfähig, von andern Funktionen abgesondert zu denken, d. h. es mischen sich ihm beständig Empfindungen oder Gefühle oder Intuitionen bei [...] In der Regel ist die nicht differenzierte Funktion auch dadurch charakterisiert, dass sie die Eigenschaft der Ambivalenz und der Ambitendenz hat, d. h. jede Position führt die Negation merklich mit sich, woraus kennzeichnende Hemmungen im Gebrauch der nicht differenzierten Funktion entstehen [...]. Ohne Differenzierung ist Richtung unmöglich, denn die Richtung einer Funktion, resp. ihr Gerichtetsein beruht auf Besonderung und Ausschließung des Nichtzugehörigen. Durch Verschmelzung mit Nichtzugehörigem ist das Gerichtetsein unmöglich gemacht; nur eine differenzierte Funktion erweist sich als richtungsfähig.“ (Jung, GW 6, § 778)

Autor: H. Obleser