Ethik, therapeutische

Aus aip-lexikon.com
Version vom 17. Juli 2024, 13:28 Uhr von de>Anlumue (1 Version importiert)
(Unterschied) ← Nächstältere Version | Aktuelle Version (Unterschied) | Nächstjüngere Version → (Unterschied)
Zur Navigation springenZur Suche springen

Keyword: Ethik, therapeutische

Links: > Abstinenz > Beziehung, therapeutische > Böses > Ethik > Ethik, neue > Ethikleitlinien > Moral > Qualitätssicherung in der Psychotherapie > Schatten > Schatten, therapeutischer > Balint-Gruppenarbeit

Definition: Die therapeutische Beziehung (> Beziehung, therapeutische) wie auch der therapeutische Prozess bringen eine kontinuierliche Auseinandersetzung mit ethischen Fragen mit sich. Diese entstehen nicht nur durch die Konflikte (> Konflikt), die sich durch das Bewusstwerden und Realisieren bislang verdrängter Bedürfnisse, Wünsche, Sehnsüchte und Individuationstendenzen einerseits und der Verantwortung den Angehörigen, Partnern und Mitmenschen gegenüber andererseits ergeben, sondern auch durch die therapeutische Beziehung selbst. Die therapeutischen Interventionen (> Intervention) sollen dem Wohlergehen des Patienten dienen und dürfen ihm nicht schaden. Der Therapeut darf seine Autorität, Macht und professionelle Kompetenz nicht missbräuchlich zur Befriedigung eigener narzisstischer, sexueller, aggressiver oder wirtschaftlicher Bedürfnisse einsetzen (> Abstinenz > Ethikleitlinien > Schatten, therapeutischer).

Information: Ein empathisch-ethischer Umgang mit Menschen, die Psychotherapie in Anspruch nehmen, ist deshalb nur möglich, wenn der Therapeut die eigenen seelischen Bedürfnisse und Inhalte von denen des Patienten unterscheiden kann. In der Ausbildung zum Analytiker gehören dementsprechend die Bereiche Behandlungstechnik und therapeutische Ethik eng zusammen. Auch aus ethischer Sicht sind deshalb die eigene > Lehranalyse und eine fortwährende > Supervision unverzichtbar. Ein weiterer ethischer Aspekt ist, dass der Psychotherapeut die Aufgabe hat, die ganz individuell geartete Persönlichkeit des Patienten zu sehen, zu akzeptieren (> Akzeptanz) und zu fördern und die notwendige Theorie, Methode und jeweilige > Intervention auf die „Stimmigkeit“ zum Patienten hin laufend zu überprüfen. “Jeder neue Fall, der gründliche Behandlung erfordert, bedeutet Pionierarbeit, und jede Spur von Routine entpuppt sich als Irrweg. Die höheren Formen der Psychotherapie sind daher eine sehr anspruchsvolle Beschäftigung und stellen gelegentlich Aufgaben, welche nicht nur den Verstand und das Mitgefühl, sondern den ganzen Menschen in die Schranken fordern.“ (Jung, GW 16, § 367)

Von großer Bedeutung ist hierbei auch die > Authentizität und Kongruenz des Therapeuten, also die Übereinstimmung von dem, was er vermittelt mit dem, was er selbst lebt und verwirklicht. Jung fordert deshalb kategorisch vom Therapeuten, er müsse selber der sein, als der er wirken wolle. Es gebe keinen Kunstgriff, mit dem man sich um diese einfache Wahrheit herum betrügen könne. (Jung, GW 16, § 167). Genau so energisch tritt er dafür ein, dass sich der Therapeut zwar einen eigenen Standpunkt gegenüber den zentralen Lebensthemen für sich erarbeitet haben soll, diesen aber in jeder individuellen Behandlung auch immer wieder infrage stellen können muss. Der Therapeut könne die moralisch-ethischen Fragen des Patienten nicht beantworten, er könne oft noch nicht einmal sicher beurteilen, ob ein Patient sich richtig oder falsch entscheide oder was gut oder schlecht für ihn sei: „Unser Gegenüber, der andere Mensch, ist ja wirklich ein anderer, sogar ein zutiefst Fremder, wenn die Diskussion beim Eigentlichen, nämlich seiner einzigartigen Individualität endlich anlangt. Was ist dann „gut“? Gut für ihn? Gut für mich? Gut für seine Angehörigen? Gut für die Gesellschaft?“ (Jung, GW 18/2, § 1408). Praktisch umgesetzt heißt dies, dass der Therapeut in einem konkreten Fall und angesichts einer konkreten Frage nicht aus einem „a priori“ heraushandeln, sondern dass er in der jeweiligen Situation auf den jeweiligen Patienten und das unbewusste Material hören solle (vgl. Jung, GW 10, § 830). Es sei nicht seine Aufgabe, „mit einer ebenso billigen wie moralisch erhabenen Geste auf die Gesetzestafeln mit dem «Du sollst nicht» hinzuweisen. Er hat objektiv zu prüfen und Möglichkeiten abzuwägen; denn er weiß es, weniger aus religiöser Erziehung und Bildung als vielmehr von Natur und Erfahrung wegen, dass es etwas gibt wie eine felix culpa. Er weiß, dass man nicht nur sein Glück, sondern auch seine entscheidende Schuld versäumen kann, ohne welche ein Mensch seine Ganzheit nicht erreichen wird. Letztere ist nämlich ein Charisma, das man weder mit Kunst noch mit List verfertigen, in das man nur hineinwachsen und dessen Geschehen und Werden man nur erleiden kann.“ (Jung, GW 12, § 36)

> Abstinenz und > Empathie, sowie das Wissen um die > Komplexität, > Polarität und Dynamik der menschlichen Psyche ermöglichen es dem Therapeuten, ruhig und besonnen auf das zu reagieren, was in der therapeutischen Situation geschieht und was er zu hören bekommt. Denn es geht ja darum, den therapeutischen Raum für alle Gedanken, Gefühle und Fantasien offen zu halten und dennoch angemessen ethisch darauf zu reagieren. Eine Psychotherapie ist wohl gelungen, wenn es gelingt, dass Pathos (Leidenschaft) und Ethos (moralische Gesinnung) eine „Liebesbeziehung“ miteinander eingehen.

Literatur: Guggenbühl-Craig, A. (1978): Macht als Gefahr beim Helfer; Varela, F. J. (1994): Ethisches Können.

Autor: A. Seifert