Abstinenz
Keyword: Abstinenz
Links: > Authentizität > Beziehung, therapeutische > Beziehungsquaternio > Ethik, therapeutische > Ethikleitlinien > Heilung > Heiler, verwundeter > Prozess, dialektischer > Schatten, therapeutischer > Übertragung / Gegenübertragung]] > Wirkfaktoren
Definition: Die therapeutische Abstinenz (umgangssprachlich meint Abstinenz Enthaltsamkeit, z. B. in Bezug auf bestimmte Speisen, Alkohol, Geschlechtsverkehr) ist nicht nur eine grundlegende ethische Verpflichtung, sondern auch einer der zentralen Wirkfaktoren der Psychotherapie.
Information: Alle therapeutischen > Interventionen sollen dem Wohlergehen des Patienten dienen, dürfen ihm nicht schaden und ihn nicht ausnutzen. Als Orientierungsregel fordert die Abstinenz deshalb von Therapeut:in und Patient:in, innerhalb der analytischen Behandlungssituation einander nicht zur direkten Befriedigung ihrer Beziehungsfantasien und -wünsche zu benutzen, sie also nicht in Handeln umzusetzen, sondern analytisch (> Analyse) zu besprechen und zu bearbeiten. Dazu gehört insbesondere auch die Vermeidung sexuellen und aggressiven > Agierens. Informationen, die der Therapeut vom Patienten erhält, dürfen auch nicht zu eigenem Nutzen verwendet werden, z. B. in wirtschaftlicher Hinsicht.
Möglicherweise schwieriger als > Missbrauch zu erkennen, weil weniger klar von therapeutischer > Authentizität,]] > Empathie und > Wertschätzung abzugrenzen, ist die Verletzung der Abstinenz durch den Therapeuten zur Befriedigung eigener narzisstischer Bedürfnisse (z. B. den Wissenden und Weisen zu spielen, um vom Patienten geliebt und bewundert zu werden), zur Durchsetzung eigener moralischer, politischer, finanzieller, religiöser und ideologischer Werte und Ziele, eigener Machttendenzen oder zur Übernahme und zum Ausleben eigener ungelebter Bedürfnisse bzw. unaufgearbeiteter Pathologien.
Die Abstinenz wurde seit den 40er und bis in die 60er Jahre hinein von der klassischen > Psychoanalyse oft sehr rigide gehandhabt. Das Behandlungssetting (> Setting) sollte so sachlich und neutral wie möglich gehalten sein, damit keine Störvariablen persönlicher und emotionaler Art vonseiten des Therapeuten die Entfaltung des unbewussten Prozesses hemmten. Dahinter stand die Vorstellung der analytischen Haltung als eines „objektiven Spiegels“, der neutral und unvoreingenommen wahrnehmen und reflektieren solle, was der Analysand auf den Analytiker übertrage. Diese sachlich-distanzierte Haltung führte oftmals zu einer lebensfernen, rollenhaften Beziehung, welche wesentlichen > Wirkfaktoren und Therapiezielen z. B. dem der > Authentizität, der offenen Kommunikation und der einfühlsamen, dialektischen Beziehungsgestaltung (> Beziehung, dialektische) entgegensteht. Der Patient lernt dann am Modell des Analytikers möglicherweise gerade das, was er nicht lernen soll (z. B. unoffene, indirekte Kommunikation, übermäßig kontrollierte Affektivität, unpersönliches Beziehungs- und Rollenverhalten), bzw. was seine psychische Störung und seine Beziehungsprobleme verstärkt.
In der modernen > Analytischen Psychologie und > Psychoanalyse wird die therapeutische Beziehung als ein multidimensionaler interaktioneller Prozess angesehen (vgl. > Beziehung, therapeutische > Beziehungsquaternio > Übertragung / Gegenübertragung), in der eine Vielzahl bewusster und unbewusster Kommunikationen auf beiden Seiten stattfinden, die weder gänzlich zu erkennen noch völlig zu kontrollieren sind. Vollständige „Objektivität“ und „Neutralität“ sind nicht nur nicht möglich, sondern wären therapeutisch auch nicht förderlich.
„Denn, wie man es auch drehen und wenden mag, die Beziehung zwischen Arzt und Patient ist eine persönliche Beziehung innerhalb des unpersönlichen Rahmens der ärztlichen Behandlung. Es ist mit keinem Kunstgriff zu vermeiden, dass die Behandlung das Produkt einer gegenseitigen Beeinflussung ist, an welcher das ganze Wesen des Patienten sowohl wie das des Arztes teilhat [...] Ja, in dem Maße, als sich der Arzt diesem Einfluss gegenüber unzugänglich erweist, ist er auch des Einflusses auf den Patienten beraubt.“ (Jung, GW 16, § 163)
An anderer Stelle schreibt C. G. Jung: „Als Arzt muss ich mich immer fragen, was mir der Patient für eine Botschaft bringt. Was bedeutet er für mich? Wenn er nichts für mich bedeutet, habe ich keinen Angriffspunkt. Nur wo der Arzt selber getroffen ist, wirkt er. 'Nur der Verwundete heilt.' Wo aber der Arzt einen Persona-Panzer hat, wirkt er nicht. Ich nehme meine Patienten ernst. Vielleicht bin ich genauso vor ein Problem gestellt wie sie. Oft passiert ja, dass der Patient gerade das richtige Pflaster für die schwache Stelle des Arztes ist. Daraus können schwierige Situationen entstehen, auch für den Arzt, oder gerade für ihn.“ (Jaffé, 1962, S. 139)
Therapeut und Patient befinden sich demnach in einem gemeinsamen analytischen Prozess, der vonseiten der Therapeuten durch die eigene > Lehranalyse, die fortwährende Selbstanalyse, > Supervision und > Intervision reflektiert und aufgearbeitet wird.
Abstinenz ist ein feiner und zuweilen sehr schwieriger Balanceakt zwischen toleranter Nicht-Einmischung und (technischer) Neutralität einerseits und authentischer, dialogischer Beziehung andererseits. Sie ist nicht hauptsächlich eine äußerlich eingenommene Haltung, die sich in streng einzuhaltenden Regeln, festgelegten Settings und starren Methoden o. ä. zeigt, sondern vielmehr eine innere Einstellung der Toleranz, Akzeptanz und Wertschätzung, durch die die Freiheit, Selbstbestimmung und Würde des Patienten gewahrt und dessen Prozess der Individuation gefördert wird.
Literatur: Cremerius, J. (1984): Die psychoanalytische Abstinenzregel; Thomä, H., Kächele, H. (1997): Lehrbuch der psychoanalytischen Therapie, Band 1 und 2.; Müller, A., Müller L. (2018): Praxis der Analytischen Psychologie. Ein Handbuch für eine integrative Psychotherapie.
Autor: L. Müller