Narr
Keyword: Narr
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Definition: Mit Narr (ahd. narro, von lat. nario: Nasenrümpfer, Spötter; ahd irnarren: zum Narren werden) kann sowohl ein närrischer, d. h. dummer, einfältiger oder unbewusster Mensch, der auf andere lächerlich wirkt, bezeichnet werden wie auch jemand, der andere Menschen durch Späße oder Spott zum Lachen bringt. Der Narr in seinen verschiedenen Bildern und Formen (z. B. als Mann, Frau, Kind, Tier, z. B. Fuchs oder Hase) ist verbunden mit dem Tricksterarchetyp (> Archetyp > Hermes-Mercurius > Trickster), als auch dem der/s alten Weisen und kann auf den verschiedensten Bewusstseinsebenen wirksam werden. Narrheit und Weisheit liegen oft nahe beisammen, denn der "klare Sinn erscheint dunkel" (> Laotse).
Information: Aus seiner konkreten Erfahrung hat A. Guggenbühl-Craig darauf aufmerksam gemacht, wie schädlich ein einseitiges Bild des weisen alten Menschen sein kann und die "närrischen Alten" als Gegenpol dazu beschrieben. Auch C. G. Jung bezweifelte die Weisheit des Nur-Heiligen: "Der Nur-Weise und Nur-Heilige interessiert mich nämlich ungefähr so viel wie ein seltenes Saurierskelett, das mich aber nicht zu Tränen rührt. Der närrische Widerspruch dagegen, zwischen dem der Maya entrückten Sein im kosmischen Selbst und der liebenden Schwäche... - dieser Widerspruch tut es mir an; denn wie kann man anders das Licht sehen ohne den Schatten, die Stille vernehmen ohne den Lärm, die Weisheit erreichen ohne die Narrheit? Am peinlichsten ist wohl das Erlebnis der Heiligkeit. " (Jung, GW 11, § 553)
Allgemein taucht der Narr in sozialen und individuellen psychischen Systemen als > Kompensation eines Bewusstseins (> Bewusstsein) auf, das einseitig auf Rationalität, Klugheit oder Wahrheit überhaupt festgelegt ist. (> Bewusstsein, patriarchales > Logos-Prinzip) Der Narr erscheint dann, wie der Joker im Kartenspiel, als Mittel des Unbewussten, eine festgefahrene Situation aufzulösen und wieder zu entspannen.
Angesichts der Tendenz jeder sozialen und kulturellen Entwicklung, kollektive Bewusstseinszustände (> Bewusstsein > Gesellschaft kollektives > Kollektiv > Kollektivpsyche) konservativ zu verfestigen, ist es kein Wunder, dass Narrenbücher wie der niederdeutsche Eulenspiegel, der arabische Dschuha, der türkische Nasreddin Hodscha und viele andere zu den meistübersetzten und meistgelesenen Büchern der Weltliteratur gehören. Zur Psychologie des Narren gehört auch die Psychologie des Witzes (> Humor), der bekanntlich unter autoritären Regimen besonders blüht. Der Narr als, gerade wegen seiner deutlichen Ambivalenz und Paradoxität emotional hoch aufgeladene, archetypische Gestalt hat eine wesentliche psychohygienische Funktion und löst verkrustete Persona- und einseitige kollektive Bewusstseinsstrukturen (> Persona) auf. Er trifft deshalb aber nicht nur bei konservativen Strukturen, sondern auch bei den ihrer Wahrheit nicht sicheren sozialen Systemen sowie jungen, frisch offenbarten religiösen Systemen, die eine kritische Hinterfragung nicht ertragen können, auf > Abwehr (> Abwehrmechanismen), > Verleugnung und Verfolgung. Rituell (> Ritual/Ritus > Ritualisierung) integriert das kollektive Bewusstsein (> Bewusstsein, kollektives) den Narren in der Beschränkung auf bestimmte Festzeiten im Karneval. Gruppenpsychologisch gibt es eine Tendenz, den “Narren“ in einem Mitglied einer Gruppe besonders hervortreten zu lassen, z. B. im "Klassenkasper". Wird eine solche Delegation nicht als Gruppenphänomen verstanden, kann es zu einer Rollenfixierung des Betreffenden wie in der Sündenbockpsychologie (> Schatten) kommen, wodurch sich die anderen Gruppenmitglieder ihrer eigenen Unbewusstheit und Narrheit nicht bewusst werden müssen.
Literatur: Guggenbühl-Craig, A. (1986): Die närrischen Alten: Betrachtungen über moderne Mythen; Radin, P., Kerenyi, K.; Jung, C. G. (1959): Der göttliche Schelm.
Autor: G. Sauer