Principium individuationis

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Keyword: Principium individuationis

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Definition: Das Principium individuationis (lat. principium: Grundsatz, Grundidee; lat. individuum: das Unteilbare, das Einzelwesen) bezeichnet jenes Prinzip, das zur Vereinzelung, zur Bildung von individuellen Einheiten aus einem größeren Allgemeinen führt. Seit Aristoteles wird in der Philosophie die Frage nach der > Individuation (> Individualität > Kollektiv > Kollektivpsyche) gestellt: Wieso findet Individuation überhaupt statt? Sie wird - z. B. von Aristoteles, von Thomas v. Aquin und von A. Schopenhauer - als prinzipiell im Ganzen, in der Materie, im Stoff, in Zeit und Raum gegeben angesehen. In dieser teleologischen (griech. telos: Ziel, Zweck, Ende, Vollendung) Sicht ist die Entwicklung des Individuums das Ziel des Ganzen und Allgemeinen. Auch für C. G. Jung ist das Individuum der natürliche und einzige Lebensträger und von daher von größter Wichtigkeit für die Schöpfung. "Ich bin zwar weder von einem allzu großen Optimismus angespornt noch von hohen Idealen begeistert, sondern bloß bekümmert um das Schicksal, das Wohl und Wehe des einzelnen Menschen, jener infinitesimalen Einheit, von der eine Welt abhängt, jenes individuellen Wesens, in dem - wenn wir den Sinn der christlichen Botschaft richtig vernehmen - sogar Gott sein Ziel sucht." (Jung, GW 10, § 588)

Information: Das Principium individuationis offenbart sich im fortwährenden Differenzierungs- und > Integrationsprozess der Individuation. Jeder Mensch, sofern er gesund ist, macht einen natürlichen Individuationsprozess von seiner Empfängnis bis zum Tod durch. In der ersten Lebenshälfte erfolgt er im Rahmen der gesellschaftlichen Möglichkeiten und der biologischen Reifungsvogänge oft ganz natürlich und oft auch wenig reflektiert ab. Vor allem nach der Lebenswende ( > Individuationsprozess: Zweite Lebenshälfte) kann dieser natürliche Prozess über die bewusste Hinwendung zum > Selbst und zum kollektiven Unbewussten (> Unbewusstes, kollektives) weiter bewusst gefördert werden. Der Prozess setzt oft über das Auftauchen archetypischer Lebensthemen (> Archetyp), archetypischer Symbole oder psychischer Symptome ein und wird gesteuert von der transzendenten Funktion (> Funktion, transzendente): "Die transzendente Funktion verläuft nicht ziellos, sondern führt zur Offenbarung des wesentlichen Menschen. Sie ist zunächst ein bloßer Naturvorgang, der gegebenenfalls ohne Wissen und Zutun abläuft, ja gegen den Widerstand des Individuums sich gewaltsam durchsetzen kann. Der Sinn und das Ziel des Prozesses sind die Verwirklichung der ursprünglich im embryonalen Keim angelegten Persönlichkeit mit all ihren Aspekten. Es ist die Herstellung und Entfaltung der ursprünglichen, potenziellen Ganzheit. Die Symbole, welche das Unbewusste hierfür verwendet, sind dieselben, die die Menschheit seit jeher brauchte, um Ganzheit, Vollständigkeit und Vollendung auszudrücken; es sind in der Regel Vierheits- und Kreissymbole. Diesen Vorgang habe ich als Individuationsprozess bezeichnet." (GW 7, §186]

Literatur: Jacobi, J. (1965): Der Weg zur Individuation; Meier, C. A. (1986): Persönlichkeit.

Autor: A. Müller