Bildbetrachtung/ -deutung: Unterschied zwischen den Versionen
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Aktuelle Version vom 20. Juli 2024, 12:02 Uhr
Keyword: Bildbetrachtung/-deutung
Links: > Deutung > Hermeneutik > A-H-System > Bild > Symbol > Verstehen
Definition: In der Analytischen Psychologie (> Analytische Psychologie) werden neben dem sprachlichen Dialog auch nonverbale imaginative Verfahren, wie Tonen und Malen, in den therapeutischen Prozess mit einbezogen. Das vom Patienten Gestaltete wird als spontane psychische Aussage verstanden, die Einblick in seine aktuelle psychische Verfassung gibt. Sowohl persönliche, als auch kollektive, unbewusste Inhalte haben daran einen wesentlichen Anteil. Da sie sich dem Ich-Bewusstsein zunächst verschlüsselt darstellen, müssen sie in der Therapie für das Bewusstsein verständlich aufgeschlüsselt werden. Ein spontan gemaltes > Bild (> Malen aus dem Unbewussten) lässt, vergleichbar der Handschrift, Rückschlüsse auf die seelische Differenziertheit der > Persönlichkeit, die Emotionalität, den Grad der Differenzierung der > Orientierungsfunktionen (> Denken/Denkfunktion > Fühlen/Fühlfunktion > Empfinden/Empfindungsfunktion > Intuition/Intuitive Funktion), die > Psychodynamik und die > Abwehrmechanismen des Malenden zu. Inhalt einerseits und Formkraft andererseits, sowie die Fähigkeit zur Gestaltung durch den Einsatz vorhandener Mittel, stehen in einem dialektischen Verhältnis zueinander. Das Bild sagt sowohl etwas aus über den innerpsychischen Zustand des Malenden, als auch darüber, wie er diesem Zustand begegnet: ob ängstlich oder mutig, ungeduldig oder geduldig, zugewendet oder abwehrend, starr oder flexibel usw. Deshalb müssen bestimmte Kriterien beachtet werden, um ein Bild mit unbewussten Inhalten verstehen und interpretieren zu können.
Information: Zunächst ist der Gesamteindruck wichtig, den die Komposition vermittelt: z. B. ist das Bild farbig oder schwarz-weiß, wirkt es lebendig oder eher starr oder düster; sind die dargestellten Inhalte miteinander verbunden oder isoliert voneinander und durch Leerräume getrennt usw. Die Metamorphose unanschaulicher dynamischer, psychischer Inhalte zum anschaulich gewordenen > Bild vollzieht sich durch ihre Übersetzung in Linie, Farbe und Form. In der Linie zeigt sich, ob und wie die, im statischen Punkt ruhende, potenzielle Energie in Bewegung kommt. Linien sind morphologisch sehr vielgestaltig. Ihre charakteristische Ausdrucksgestalt lässt unmittelbar Rückschlüsse auf die aktuelle psychische Verfassung des Malenden zu, z. B. flüssig – stockend, flexibel – starr, zögerlich – bestimmt usw. (Daniel, 1993).
> Farben machen eine Aussage über emotionale und affektive Gestimmtheit und – mit Vorbehalt – über die Orientierungsfunktionen (Blau – Denkfunktion, Rot – Fühlfunktion, Grün – Empfindungsfunktion, Gelb-Intuition). Die Farbwirkungen sind archetypischer Natur. Wie das > Symbol sind Farben bipolar, d. h. sie haben einen positiven und einen negativen Pol. Je offener und breiter die Beziehung des Einzelnen zu den Farben gelagert ist, desto größer ist seine psychische Lebendigkeit, d. h. desto farbiger ist seine Persönlichkeit. Die, in dem Bild, entstandenen Formen werden als Symbole aus dem > Selbst des Malenden verstanden. Sie haben ihren Ursprung sowohl im persönlichen wie auch im kollektiven Unbewussten (> Unbewusstes, kollektives) . Entsprechend werden aus dem Unbewussten gemalte Bilder nicht nach künstlerischen oder formalen Gesichtspunkten beurteilt. Sie werden nicht als Abbild, sondern als Innenbild in ihrer Symbolik und Dynamik verstanden und im Dialog mit dem Patienten interpretiert (> Deutung > Verstehen). Entsprechend wird das Bild als Spiegelbild des Malenden angesehen, d. h. rechts, d. h. links im Bild entspricht seiner rechten, bzw. linken Körperseite.
Die Gesichtspunkte, die zum Auffinden der Bedeutung eines Bildes führen, sind Erfahrungswerte. Sie wurden empirisch ermittelt. Seit Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts galt das Interesse der psychiatrischen Forschung zunehmend dem bildnerischen Gestalten von psychiatrisch Kranken. So hat bereits 1905 L. Nagy in Budapest Kinderzeichnungen untersucht. 1921 erschien von W. Morgenthaler “Ein Geisteskranker als Künstler“. Bekannt ist die Sammlung von Bildern Geisteskranker von H. Prinzhorn (Prinzhorn 1922). Dabei kamen jedoch vor allem diagnostische Aspekte zur Sprache. 1965 erschien die interessante Arbeit von L. Navratil, “Schizophrenie und Kunst“, in der er die Ansicht vertritt, dass „die psychische Dynamik des Schöpferischen bei Gesunden und Kranken gleich“ sei (Navratil, 1996). C. G. Jung erkannte schon früh den Symbolgehalt von Bildern (> Bild > Symbol) als Ausdruck seelischer Verfasstheit (vgl. Jung, GW 3, § 553f; Jung, GW 5; Jung, GW 11, § 908f). In seiner Nachfolge sind vor allem J. Jacobi und S. Bach zu nennen. Jacobi hat besonders den therapeutischen Aspekt des bildnerischen Gestaltens betont (Jacobi, 1969). Bach hat, in der Arbeit mit schwer kranken Kindern, die psychosomatischen Zusammenhänge des Prozessverlaufs der Erkrankung bis zum manchmal finalen Ausgang beobachtet (Bach, 1966). Beide Autorinnen haben, aus einer Fülle von empirischen Material, Interpretationshilfen erarbeitet und zugleich betont, dass sie nicht allzu schematisch angewendet werden dürfen, da psychischer Ausdruck nicht schematisiert werden könne. Jacobi hat zur Orientierung auf die Dreiteilung des Schriftbildes aus der Grafologie zurückgegriffen. Dabei sind im oberen Drittel des Bildes geistige, ideelle und theoretische Inhalte angesiedelt, im mittleren seelische und gemüthafte und im unteren Drittel triebhafte, materielle und praktische. Die Richtung von links nach rechts weist in die Zukunft (> Progression), von rechts nach links dagegen in die Vergangenheit (> Regression). S. Bach unterteilt das Bild durch ein „Fadenkreuz“ in vier gleiche Quadranten. Inhalte, die im Zentrum erscheinen, haben zentrale Bedeutung. Im rechten oberen Quadranten liegende Elemente sind dem Hier und Jetzt zugeordnet, im linken unteren Quadranten liegende weisen auf Verschlechterung der Krankheit und Depression hin. Inhalte und Bewegungen im linken oberen Quadranten können den nahenden Tod signalisieren. Dagegen sind Inhalte im rechten unteren Quadranten relativ Ich-nahe und weisen auf mögliche Besserung der Erkrankung hin. R. Daniel greift die Orientierungshilfe von S. Bach in modifizierter Form auf und betont dabei besonders den dynamischen Aspekt (Daniel, 1993).
Literatur: Bach, S. (1996): Das Leben malt seine eigene Wahrheit; Daniel, R. (1993): Archetypische Signaturen im unbewussten Malprozess; Jacobi, J. (1969): Vom Bilderreich der Seele; Riedel, I. (1988): Bilder in Religion, Kunst und Psychotherapie.
Autor: R. Daniel