Individuationsprozess: Zweite Lebenshälfte: Unterschied zwischen den Versionen

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Aktuelle Version vom 20. Juli 2024, 12:02 Uhr

Keyword: Individuationsprozess: Zweite Lebenshälfte

Links: > Individualität > Individuation > Individuationsprozess > Individuationsprozess: Erste Lebenshälfte > Lebenswende > Ganzheit > Ganzwerden > Mandala > Selbst

Definition: Mit dem Erreichen einer, vornehmlich gesellschaftlich bedingten, Identität und der Erfüllung der, zur Sicherung und Aufrechterhaltung der Gesellschaft erforderlichen, Leistungen ist für viele Menschen der Lebenssinn (Sinn) realisiert, ihr Leben spielt sich in den gesellschaftlich vorgegebenen Bahnen ab. (> Individuationsprozess: Erste Lebenshälfte) Das Bedürfnis nach Sicherheit und einem geordneten Lebensablauf wird vorherrschend, sie spüren wenig Veranlassung, nach Alternativen des Lebenssinns zu suchen. Die gesellschaftlichen Angebote zur weiteren Lebensgestaltung zielen nicht auf Persönlichkeitserweiterung und -wandlung ab, sondern auf eine Wiederholung und Variation des bereits Bekannten und Gegebenen. Aber Menschen stellen sich auch in der Lebensmitte und danach, meist aufgerüttelt durch eine Not oder Krise, die bange Frage nach dem, wie es jetzt weitergehen soll. Wie könnte nun aber der weitere Weg für den aussehen, der aus Not, aus Neigung oder Lebensfreude den Prozess der Individuation weitergehen möchte? Während die Persönlichkeits-Entwicklung in der ersten Lebenshälfte fast notwendigerweise mit der Abspaltung und dem Unbewusst-lassen ganz bestimmter Selbstanteile verbunden ist, kommt es nun zu einem umgekehrten Prozess, in dem sich der Mensch den unbewusst gebliebenen Selbstanteilen aussetzt und sich von ihnen erweitern und relativieren lässt (> Individuation > Individuationsprozess).

Information: Im Einzelnen könnte dies bedeuten die Auseinandersetzung mit der > Persona und dem eigenen > Schatten, die Herstellung einer Beziehung zum inneren Gegengeschlecht (> Animus/Anima: Klassische Auffassung), die Bewusstmachung unbewusster Komplexe sowie bisher unbeachteter archetypischer wie transpersonaler Dimensionen und eine Hinwendung zur schöpferischen Selbstregulation der Psyche. Dies sind natürlich nur einzelne, stark verallgemeinerte Aspekte, die weder in dieser Reihenfolge, noch mit diesen Begriffen, noch mit diesen Inhalten den Individuationsprozess bestimmen müssen, denn der Individuationsprozess, verläuft jenseits vorgegebener Regeln und Normen. Die Auseinandersetzung mit der Persona dient der Unterscheidung zwischen denjenigen Seiten der Persönlichkeit, die das Ergebnis der Anpassung an die gesellschaftlichen und kollektiven Werte (> Kollektiv) sind, und jenen, die dem Selbst entstammen. Eng damit verbunden ist die Auseinandersetzung mit dem Schatten. Er steht in einem umgekehrten Wechselverhältnis zur Persona, denn je mehr versucht wird, den gesellschaftlichen Normen und Werten gerecht zu werden, desto mehr neigt man dazu, die diesen Werten entgegengesetzten abzuwehren. Durch die "Schattenarbeit" erfährt man etwas über die eigenen ungelebten negativen aber auch positiven Potenziale und man wird sich selbst zur kreativen (> Kreativität) und zur moralischen Aufgabe. (> Ethik > Moral > Gewissen) Die Herstellung einer Beziehung zu den inneren gegengeschlechtlichen Seiten erschließt nicht nur neue Erlebens- und Erfahrungsmöglichkeiten, sondern macht auch im partnerschaftlichen und sozialen Kontakt beziehungsfähiger. Der Partner und der Mitmensch können eher in ihrer Wirklichkeit und Andersartigkeit gesehen und angenommen werden. Schließlich führt auch die Rücknahme der Selbst-Projektion auf äußere, materielle Objekte und äußere Zustände (Macht, Reichtum, Erfolg, Ruhm und Ehre) zu einer Befreiung von der Abhängigkeit und Bindung an diese, zu einer gelasseneren, "objektiveren" Wahrnehmung der äußeren Realität, zu einer größeren Bezogenheit zur inneren psychischen Realität (> Wirklichkeit, psychische) wie insgesamt zu einer größeren Wertschätzung des ganzen, ganzheitlichen Lebens in all seinen Erscheinungsformen.

Die Auseinandersetzung mit den existenziellen Grundproblemen des Menschen, die sich im Älterwerden und der zunehmenden Begrenztheit besonders akzentuieren, wird zentral. Im günstigsten Falle verhilft gerade diese Dimension dazu, den Wert und die Kostbarkeit des Lebens besonders zu würdigen. Ein erhöhtes Engagement für die Erhaltung des Lebens und die Entwicklung der Kultur kann die Folge sein. Unter archetypischer Perspektive steht diese zweite Lebenshälfte im günstigsten Falle zunehmend unter dem Thema der Reifung und Vollendung, damit unter der Dominanz des Archetyps der > Ganzheit und des > Selbst (> Mystos-Prinzip). Alle bisher gelebten Prinzipien bleiben erhalten, verbinden sich zu einer höheren > Synthese, hinter dem Personalen wird das Transpersonale, hinter dem individuellen wird der archetypische Mensch (> Anthropos > Kind, Göttliches > Weise, Alte, Weiser, Alter > Hermes-Mercurius aber auch der > Narr) erfahrbar. Die Erfahrung des Selbst als der Quintessenz des Lebens und des Schöpferischen ist aber kein Vollkommenheitszustand, wie ihn der christliche Idealismus anstrebt, sondern diese Erfahrung ist vielmehr das Erleben und Erleiden einer menschlichen Vollständigkeit in all ihrer Paradoxie, Alltäglichkeit, Gewöhnlichkeit und Durchschnittlichkeit (> Ganzheit > Gegensatz > Polarität). Da sich in der Erfahrung des Selbst die verschiedensten Gegensatzspannungen versöhnen, stellt sich als Resultat dieser Erfahrung häufig ein seelischer Zustand einer heiteren Gelassenheit ein, der nichts überwältigend Großartiges, Bedeutungsvolles, Heiliges an sich hat, sondern viel eher in einfachen und schlichten Worten seinen Ausdruck findet: "Wenn man zusammenfasst, was die Menschen einem über ihre Ganzheitserfahrung erzählen, so kann man es ungefähr so formulieren: Sie kamen zu sich selber, sie konnten sich selber annehmen, sie waren imstande, sich mit sich selbst zu versöhnen, und dadurch wurden sie auch mit widrigen Umständen und Ereignissen ausgesöhnt." (Jung, GW 11, § 138)

Literatur: Jacobi, J. (1965): Der Weg zur Individuation; Meier, C. A. (1986): Persönlichkeit; L. Müller, L. (2001): Lebe dein Bestes; Riedel, I. (1997): Träume - Wegweiser in neue Lebensphasen-.

Autor: L. Müller