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Aktuelle Version vom 20. Juli 2024, 12:02 Uhr
Keyword: Sinn
Links: > Deutung > Einsicht > Erkenntnistheorie > Hermeneutik > Konstruktivismus > Logos-Prinzip > Synchronizität > Verstehen > Wissen, absolutes
Definition: Die etymologische Bedeutung des Wortes Sinn (sinnan: gehen, streben, eine Reise machen) korrespondiert mit dem chinesischen Begriff Tao, der sowohl mit Weg als auch mit Sinn übersetzt wird. In der Biologie wird Sinn als Bezeichnung für die Reiz aufnehmenden Sinnesorgane verwendet, in Philosophie und Religion ist die Frage nach dem Sinn die Frage nach dem Wert, der einem Inhalt gegeben wird, nach der übergreifenden Bedeutung und dem als sinnhaft erlebten Zusammenhang. Mit seinen Sinnesorganen ist der Mensch in der Lage, die Welt wahrzunehmen (> Empfinden/Empfindungsfunktion), Erlebnisse zu bewerten (> Fühlen/Fühlfunktion) und sinngebend zu interpretieren (> Denken/Denkfunktion) und sich ihr gegenüber auch vorausahnend oder nach Hintergründen bzw. hintergründigem Sinn suchend (> Intuition/Intuitive Funktion) zu verhalten. Zwischen diesen > Orientierungsfunktionen und dem Sinn bestehen also deutliche Zusammenhänge. Ohne sie könnte es keine Sinnsuche geben. Vielleicht hat sich der verborgene Sinn (> Taoismus) die Werkzeuge der Sinne, durch die Bewusstsein und Erkennen möglich wird, geschaffen, um seinen eigenen Sinn erfassen zu können. "Ohne das reflektierende Bewusstsein des Menschen ist die Welt von gigantischer Sinnlosigkeit, denn der Mensch ist nach unserer Erfahrung das einzige Wesen, das 'Sinn' überhaupt feststellen kann.“ (Jung, Jaffé, 1962, S. 376)
Information: Die philosophisch-religiöse Suche nach dem Sinn, das Erkennen-Wollen des Woher und Wohin, des Was und Warum seiner Existenz ist ein Grundbedürfnis des Menschen, es offenbart sich in seinen Narrationen, Mythen und Religionen, seinen Philosophien, Künsten und den Wissenschaften. Immer und überall ist der Mensch auf der Suche nach dem eigentlichen, tieferen oder höheren Sinn von Allem. Deswegen kann auch die > Neurose letztlich verstanden werden als "ein Leiden der Seele, die ihren Sinn nicht gefunden hat." (Jung, GW 11, § 497)
Dass sich "allerorts die Frage nach Weltanschauung, nach Sinn von Leben und Welt erhebt" ist von daher für die Analytische Psychologie eine selbstverständliche Tatsache. Das Erarbeiten und das Erleben von Sinnbezügen im Kleinen wie im Großen, im Persönlichen wie im Kollektiven gehört zu ihren zentralen Anliegen. Die Fülle des potenziell sinnhaltigen Materials, das der Einzelne wie auch die Menschheit in ihren archetypischen Themen und Motiven, in Mythen und Märchen, in Fantasien, Träumen und Symbolen hervorgebracht und gestaltet hat, zu ordnen, ihren möglichen Sinn zu erschließen, zu verstehen und zu deuten (> Deutung > Hermeneutik > Verstehen) ist ein wesentlicher Teil der analytischen Forschung und der therapeutischen Arbeit. Sie geht davon aus, dass in den unterschiedlichsten Symbolen, die das Unbewusste gemeinsam mit dem Bewusstsein umkreist und erarbeitet, Sinn und Orientierung gefunden werden kann. Einen endgültigen oder "letzten Sinn" kann sie aber nicht vermitteln. C. G. Jung zweifelt auch daran, dass ein solcher letzter Sinn dem menschlichen Erkennen prinzipiell zugänglich sein kann: "Die Welt, in die wir hineingeboren werden, ist roh und grausam und zugleich von göttlicher Schönheit. Es ist Temperamentssache zu glauben, was überwiegt: die Sinnlosigkeit oder der Sinn. Wenn die Sinnlosigkeit absolut überwöge, würde mit höherer Entwicklung die Sinnerfülltheit des Lebens in zunehmendem Maße verschwinden. Aber das ist nicht - oder scheint mir - nicht der Fall. Wahrscheinlich ist, wie bei allen metaphysischen Fragen, beides wahr, das Leben ist Sinn und Unsinn, oder es hat Sinn und Unsinn. Ich habe die ängstliche Hoffnung, der Sinn werde überwiegen und die Schlacht gewinnen." (Jung, Jaffé, 1962, S. 360)
Wenn die Frage nach dem Sinn des Ganzen auch nicht definitiv beantwortet werden kann, so kann ein Sinn doch relativ gefunden werden, nämlich in der Verwirklichung der individuellen Eigenart (> Individuation), der liebevollen Förderung des evolutionären Prozesses und der Erweiterung des Bewusstseins: "Der Mensch ist unerlässlich zur Vollendung der Schöpfung, ja er ist der zweite Weltschöpfer selber, welcher der Welt erst das objektive Sein gibt, ohne das sie ungehört, ungesehen, lautlos fressend, gebärend, sterbend, Köpfe nickend durch Hunderte von Jahrmillionen in der tiefsten Nacht des Nicht-Seins zu einem unbestimmten Ende hin ablaufen würde. Menschliches Bewusstsein erst hat objektives Sein und den Sinn geschaffen, und dadurch hat der Mensch seine im großen Seinsprozess unerlässliche Stellung gefunden." (Jung, Jaffé, 1962, S. 259f.)
So könnte die Aufgabe des Menschen darin liegen, seine Funktion als zweiter Weltschöpfer zu übernehmen, dem unerkannten Sein, das durch ihn wirkt, Bewusstsein und Sinn zu verleihen in einem fortwährenden schöpferischen Prozess, der sich mit jeder Lebensalter und jeder neuen Perspektive wandelt und neu "konstruiert" werden muss (> Konstruktivismus).
Neben diesen Gedanken hat Jung einen weiteren Zugang zum Sinnaspekt des Lebens in seinen Beobachtungen und Überlegungen zur > Synchronizität gefunden (> Feld, psychisches > Wissen, extranes). Über das Synchronizitätserleben stellen sich vielfältige Bezüge zur Sinnfrage im Alltag und im therapeutischen Prozess her. Jung zieht in Betracht, "dass ein und derselbe (transzendentale]) Sinn sich in der menschlichen Psyche und zugleich in der Anordnung eines gleichzeitigen äußeren und unabhängigen Ereignisses offenbaren könne" (vgl. Jung, GW 8, § 905). Dies lasse auf "die Existenz eines an sich bestehenden Sinnes", ja sogar eines "absoluten Wissens" (vgl. Jung, GW 8, § 938) schließen.
Literatur: Jaffé, A. (1983): Der Mythus vom Sinn im Werk von C. G. Jung; Jung, C. G., Jaffé, A. (1962): Erinnerungen, Träume, Gedanken von C. G. Jung; Seifert, T. (1981): Lebensperspektiven der Psychologie.
Autor: Th. Seifert